So, auf das Opus von
@Iron Ulf werde ich noch mal genauer eingehen, aber dazu muss ich es erst mal durchlesen.
Ansonsten gibt's hier wie üblich den Überblick über das Geschehen der letzten 2-3 Monate:
Donna Tartt - Der Distelfink
Inhalt: Theodore Decker verliert im Alter von 11 Jahren seine Mutter bei einem Bombenanschlag in einem New Yorker Museum, lässt bei dieser Gelegenheit aber das titelgebende Gemälde mitgehen. Danach zur Pflege in der gutbürgerlichen Familie seines Kumpels Andy untergebracht, knüpft er - über den Umstand, dass er beim Anschlag dem schwer verletzten Welty bis zuletzt die Hand gehalten hatte - freundschaftliche Kontakte zum Antiquitätenhändler Hobie. Doch dann tauchen Theos verschollener Vater und dessen Freundin Xandra auf und nehmen ihn in die halbseidene Welt von Las Vegas mit... und wiederum wird Theo zum Einzelgänger. Bis er hier in die Gesellschaft des ukrainischstämmigen Weltenbummlers Boris gerät, mit dem er sich die Tage und Nächte mit Drogen und Exzessen um die Ohren schlägt... bis auch hier das Schicksal zuschlägt und Theos Vater im besoffenen Zustand tödlich verunglückt. Zum Vollwaisen geworden, kehrt Theo nach New York zurück. Jahre später hat er dann Hobies Laden auf Vordermann gebracht, bis auf einmal die Vergangenheit zurückschlägt... oder so.
Kommentar: Wirklich leicht zu fassen ist dieser äußerst umfangreiche Roman nicht, was vielleicht schon der reichlich umständlichen Erzählung der ausschweifenden Handlung anzumerken ist. Tatsächlich ist der Roman die ersten 700-800 Seiten über praktisch ein einziger
Random Events Plot, erst danach ergibt sich in den Handlungen der beschriebenen Personen eine gewisse Konsequenz, aber davor gibt's - durch das Gemälde im Titel sowie den Umgang mit Antiquitäten - höchstens einen motivischen roten Faden. Rückblickend war die Lektüre an sich auch nicht wirklich lohnenswert. Das ganze Lesen hindurch gab's zwar eine gewisse Erwartungshaltung, dass die große Sensation (man bedenke, wie ausgezeichnet das Buch so wurde...) sich doch noch einstellen möge, aber hinten raus war's wirklich nichts besonders. Vor allem - Spoiler, oder auch nicht - das gewöhnliche Krimi-Thriller-Ende in Amsterdam war geradezu ein Reinfall. Na ja, muss ich nicht haben (hatte ich aber, und es hat mich fünf Wochenenden gekostet...).
Frank Goosen - Kein Wunder
Inhalt: Kommt einem das etwa bekannt vor? Ende der 80er lebt ein gewisser Frank Dahlbusch, genannt "Fränge", in West-Berlin... aber davon handelt die Geschichte eigentlich gar nicht, denn im Fokus stehen eher Fränges Kumpels Förster und Brocki, die noch im heimischen Bochum verblieben sind, immer wieder mal auf Besuch in der "Frontstadt des Kalten Krieges" vorbeischauen und daneben auch ihre ganz eigenen Problemchen zu lösen hoffen. Denn auch die Geschichte dreht sich weiter, und in den Konflikt, dass jener Fränge ausgerechnet versucht, zwei separate Freundinnen in Ost- und Westhälfte der Stadt zu unterhalten, werden die beiden ja sowieso spätestens dann voll reingezogen, als die Mauer schließlich fällt und Fränge wie vom Erdboden verschluckt scheint.
Kommentar: Tja, die offenkundigen Parallelen zu Sven Regeners "Herr Lehmann" wurden ja schon benannt, und selbst die Regener-typischen Grübeleien und den Hang zur Schilderung skurrilster Ereignisse streut Frank Goosen immer wieder ein, wahrscheinlich sogar mit voller Absicht. Viel gehaltvoller als Lehmanns munteres In-den-Tag-Leben ist das, was Förster, Brocki und Fränge hier durchmachen, letztlich auch nicht, aber trotz des schon reichlich abgebgriffenen Sujets hat Goosen Regener eine Sache sogar voraus: Der Blick hier ist viel weitschweifiger und nicht bloß auf die kleine Perspektive des Protagonisten beschränkt, und so ist es dann nur konsequent, dass bei Goosen die Mauer tatsächlich fallen darf und Trabis in Bochum auftauchen, während bei Regener der 9. November 1989 bekanntlich im Urbankrankenhaus endete. Erkauft wird das allerdings auch mit einem zumindest passagenweise eher hölzernen Dialogstil - so, wie Goosen hier vor allem Fränge und Brocki sprechen lässt, dürfte damals doch wirklich niemand geredet haben.
José Calvo Poyato - Der Verfluchte
Inhalt: Gegen Ende des 17. Jahrhunderts steht Spanien vor einer Krise: Der kränkliche und als verflucht geltende König Karl II. hat keine Nachkommen, dafür ziehen längst andere Kräfte im Hintergrund die Fäden, und das einstmals stolze Land droht aus dynastischen Gründen in die Abhängigkeit von Frankreich zu geraten. Im Geheimen spinnt Rocaberti, Vorsitzender des Kronrats, eine Intrige: Mit Hilfe eines Alchimisten aus Prag soll der König von seinem Fluch befreit werden. Der Adlige Cantillana wird also auf die Reise geschickt, doch die bloße Distanz stellt noch nicht mal das einzige Problem dar...
Kommentar: Hier gibt's im Wesentlichen von meiner Seite zu sagen, dass dieser Genreroman (ja, historisch eben...) mir hauptsächlich deshalb in die Hände gefallen ist, weil es zum auf Porträts immer wie die Präinkarnation von Klaus Kinski wirkenden Karl II. gar keine populärwissenschaftliche Literatur gibt und die Fachliteratur auch nicht aufzutreiben war - also musste es eben diese Halbfiktion richten. Immerhin merkt man dem Autor hierbei seine Vorbildung an einigen recht genauen Beschreibungen der zeitlichen Zusammenhänge und Gegebenheiten auch an, wohingegen die eigentliche Handlung natürlich weniger spannend durchgetaktet war (zumal das größtenteils historische Personengeflecht erst mal eingeführt werden musste, was bereits den Auftakt schon recht langatmig geraten ließ).
Interessanter zum aktuellen Zeitpunkt ist aber ohnehin eher der Charakter des Buchs als Zeitporträt. Denn wie sich aus diesen Schilderungen ergibt, zeigen sich da doch einige befremdliche Parallelen zwischen der damaligen Herrschaftsschicht und einigen heutigen Populisten: Die Leute hier glauben ja wirklich die ganzen Sachen - also an Flüche, Verhexungen, Besessenheiten von Dämonen - und lassen ihr Handeln fast ausschließlich von diesen als real erachteten Überzeugungen bestimmen. Eine Vernunft in diesem Sinne gibt (bzw. gab) es nicht. Und nicht viel anders sieht es wohl bei all den Verschwörungs-Junkies da draußen aus. Bezeichnend also, dass Poyato dem Protagonisten kurz vor dessen abschließendem Abgang (wie, was und wo verrate ich natürlich nicht...) noch die Worte in den Mund legt, diesem Land sei einfach nicht zu helfen.
Anke Stelling - Schäfchen im Trockenen
Inhalt: Im noblen Berlin-Prenzlauer Berg leben sich Schriftstellerin Resi und ihre vor Jahren gemeinsam aus Ulm übergesiedelte Schwabenclique auseinander, was schließlich in der Kündigung von Freundschaften und Mietvertrag gipfelt. Doch woran liegt das? Sind alle bloß erbost über einige kritische Artikel und Romane von Resi über das vermeintlich gute Leben in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, die diese Kollegen nur allzu gerne auf sich beziehen? Schafft der Unterschied zwischen festangestellten oder selbstständigen Gutverdienern sowie der freischaffenden und somit prekären Künstlerin ein unüberbrückbares Gefälle? Oder ist selbst das immer noch die Kluft zwischen der Aufsteigerin aus der unteren Mittelklasse und den alteingesessenen Fabrikanten-, Arzt- und Anwaltskindern, die selbst der über Jahrzehnte gemeinsam erlebte Bildungsgang nie und nimmer kitten konnte? Davon erzählt Resi in einem essayistischen Stil und immer wieder an ihre älteste Tochter Bea gerichtet - schließlich sollen ja alle auch etwas lernen und tunlichst nicht die gleichen Fehler wie die Eltern machen.
Kommentar: Offenbar trägt das ganze hier ziemlich autobiografische bzw. autofiktionale Züge und ist ansonsten natürlich wohl eher eine Art Manifest denn ein Roman. Stelling reißt dabei reicht viele Gedanken zu sozialen und soziologischen Fragen an: Wie (un)gleich ist unsere Gesellschaft wirklich? Welche Mittel setzen bestimmte Milieus zur Abgrenzung ein? Wie weit reicht Gruppenzwang, wie weit geht Selbstoptimierung? Wie sehr sollte man sein Leben planen? Welchen Wert haben Ideale in einem zusehends vom Materiellen geprägten Umfeld? Stelling versucht, diese Fragen für sich zu beantworten, und kommt zu einem mit Blick auf die moralische Verfasstheit dieser Gesellschaft eigentlich ziemlich brisanten Ergebnis. Negativ fällt aber auf, dass die Protagonistin und Erzählerin dann allerdings doch selbstgefällig genug ist, den Umstand, dass sie diese Spiele lange genug selber mitgespielt hat, keinesfalls selbstkritisch zu hinterfragen. Irgendwie sind es am Ende eben doch die Anderen (oder wahlweise auch irgendwelche Vorprägungen von Nazizeit bis Neoliberalismus), die hier für alles verantwortlich gemacht werden, und das ist dann natürlich viel zu kurz gedacht und nimmt der Botschaft bzw. dem Anliegen der Autorin dann doch eine ganze Menge Wind aus den Segeln - schlechterdings wirkt es hier letztlich eher so, als sei die Motivation hinter diesem ganzen Schrieb bloß der Antrieb zur Psychohygiene gewesen.
Schließlich lässt sich dann gegen die Argumente der Protagonistin aber vor allem einwenden, dass ihre materielle Differenz zu ihrem Umfeld letzten Endes vielleicht gar kein Produkt von bereits von vornherein existierenden Klassenunterschieden ist, sondern eher das Resultat der Berufswahl und des in Resis Metier ausbleibenden Erfolgs - diese Einlassung mag sich jetzt zwar wie das übliche neoliberale "Hättest du mal was anständiges gelernt" lesen, aber Tatsache ist auch, dass die Entscheidung, es eben als Schriftstellerin zu versuchen, ganz alleine bei Resi lag, nachdem der Weg bis zu dieser Entscheidung - also Schulzeit, Übersiedeln nach Berlin, Studium etc. - sehr wohl von einer gewissen Egalität geprägt war. Hätte Resi ihre Selbstverwirklichung wie einige ihrer Weggefährten als Ärztin, Architektin oder Grafikdesignerin gesucht, wären Ergebnisse und Geisteshaltungen wohl ganz andere gewesen. Insofern ist es recht fraglich, ob die ständig angesprochenen Unterschiede tatsächlich nicht eher auf den Wunsch zurückgehen, das Leben der Bohème zu führen.
Christian Kracht - Eurotrash
Inhalt: Christian Kracht, Autor des Erfolgsromans "Faserland", holt seine achtzigjährige Mutter ab, die längst alkohol- und tablettenabhängig ist, mehrfache Aufenthalte in der Nervenklinik hinter sich hat und überdies mit einem künstlichen Darmausgang ausgestattet ist, und zieht mit ihr mit einem Haufen Bargeld in einer Plastiktüte durch die Schweiz. Und erinnert sich an die Vergangenheit mit dieser Frau, der hoch gestellten weiteren Verwandtschaft, allerlei Luxus, mehr oder weniger einschneidende Erlebnisse.
Kommentar: Der Feuilleton überschlägt sich über dieses Buch ja gerade ziemlich, aber erst mal ist festzustellen: Nein, mehr passiert hier eigentlich wirklich nicht, wenngleich auf der (gar nicht mal so langen und letztlich nur zwei Tage dauernden Reise einige wirklich bizarre Dinge passieren). Obwohl es umgekehrt natürlich schon ziemlich hochtrabend wirkt, was Kracht alles über die Vergangenheit zutage fördert: Beziehungen zu Altnazis, Künstlern, Politikern und Axel Springer, regelmäßige Aufenthalte an den nobelsten Orten - und die (üblicherweise in den Rezensionen auch angesprochene) Herausforderung besteht nun eben darin, Kracht das alles glauben oder aber diese "Fakten" irgendwie nachprüfen zu wollen. Darunter läuft die Geschichte allerdings doch recht unrund dahin, sodass hier vorerst kein sonderlich großer Eindruck zurückbleibt.
Eine "Fortsetzung" des eingangs genannten Kracht'schen Debüt- und Erfolgsromans mag ich in "Eurotrash" übrigens auch nicht sehen. Es wird im Laufe der Handlung einfach zu deutlich, dass es sich beim Protagonisten von "Eurotrash" nicht um jenen von "Faserland" handelt, sondern eben um eine zwar fiktionalisierte Version von Kracht selber (der hier dann noch einige ebenfalls nur schwer zu glaubende Zeilen zur Entstehung von just jenem Werk fallen lässt). Insofern wäre meine Interpretation von "Eurotrash" wohl letztlich auch eher die, dass es sich hierbei um einen direkteren Versuch von Kracht am seit den Erfolgen von Karl-Ove Knausgård und Elena Ferrante geradezu grassierenden Trend "Autofiktion" handelt - den Kracht dann aber konsequenterweise (und vermutlich aufgrund der Eingebung, dass das eine plakative Schilderung des eigenen Lebens vielleicht doch etwas zu narzisstisch für eine Handlung wäre) wiederum eben durch den Schwerpunkt auf der Figur seiner Mutter umlenkt.