Armia - Polnischer Progressive Punk (und noch viel mehr)

Patera

Deaf Dealer
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Nachdem für Reverorum Ib Malacht bereits seit 2020 ein eigener Thread existiert, ist es an der Zeit, die katholische Unterwanderung dieses Forums auch in anderen Bereichen fortzuführen: Und damit Vorhang auf für Armia - eine ebenfalls katholische, musikalisch gleichwohl viel hellere Band, die ursprünglich aus der (Hardcore) Punk-Ecke kommt, sich im Lauf der Jahre aber zu einem musikalischen Chamäleon entwickelt hat. Trotzdem erkennt man - mit Ausnahme des Albums Freak - immer sofort, um welche Band es sich handelt. Armia heben sich von der restlichen Musikwelt durch den häufigen Einsatz eines Waldhorns ab - in ähnlicher Weise, wie dies Celtic Frost auf To Mega Therion praktiziert haben, nur eben viel exzessiver.

Um sich in die Klänge Armias zu verlieben, bietet sich die Quasi-Bandhymne Niewidzialna Armia an.

Oder der Song Katedra, in dem textlich Kafka gehuldigt und musikalisch eine Rundreise durch Mitgröhl-Punk, flotten HC und New Artrock unternommen wird; das Ganze angereichert durch sphärische Keyboards, Disharmonien (die wahlweise an Voivod oder Deathspell Omega erinnern) und natürlich das erwähnte Waldhorn.

Und die Band kann noch so viel mehr:
D-Beat: Przebłysk 5
Post-Punk: To moja zemsta
Progressive Metal: Łapacze wiatru
Alternative/Pop/Folk/Nu-Metal-Gemisch: Nostalgia (Achtung: fieser Ohrwurm!)
Psychedelic Rock: Ultima Thule
Psychedelischer Jazzrock: Home

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Die Lyrik

In ihren Texten beziehen sich Armia oftmals auf literarische Vorlagen (u.a. Kafka, Cervantes), und einige Stücke sind ganz offensichtlich christlich konnotiert. Ein Freund von mir, der ursprünglich aus Polen stammt (und durch den ich Armia kennengelernt habe), beschrieb die Texte als lyrisch anspruchsvoll und gleichzeitig so abstrakt, dass sie in vielfältiger Weise interpretiert werden können. Also nichts mit Heidenmission. Abgesehen davon: Da ich der polnischen Sprache nicht mächtig bin, verstehe ich kein Wort, und ob jetzt jemand "Jesus Christ ... Sodomized" oder "Jezus Chrystus jest Panem" singt, ist mir gleich.

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Noch ein paar Worte zur Bandgeschichte:

Jedes Ende ist ein neuer Anfang
In Polen wird die Kunst des Schismas in ganz ausgezeichneter Weise beherrscht; denken wir nur an Батюшка vs. Батюшка oder Kat vs. Kat & Roman Kostrzewski. Auch Armia sind die Folge eines Schismas. Ursprünglich war Bandchef Tomasz Budzyński Sänger in der Punkband Siekiera. Nachdem er dort Einfluss auf die Texte nehmen wollte, ihm dies aber verweigert wurde, kam es zum Split. In der Folge wandten sich Siekiera dem Post-Punk zu, während die von Budzyński neu gegründeten Armia zunächst den Stil von Siekiera fortführten. Das erste, 1987 erschienene Album, welches ursprünglich schlicht Armia betitelt wurde, in den neueren Pressungen aber Antiarmia heißt, bietet unspektakulären Punkrock, der oftmals die Schwelle zum Hardcore überschreitet. Nicht schlecht, aber sicher kein Klassiker. Positiv sticht der räudige Gesang heraus, der angenehm an finnischen oder brasilianischen Hardcore (Rattus, Olho Seco o.ä.) erinnert. An ein paar Stellen gibt es auch bereits das Waldhorn zu hören; eine tragende Rolle nimmt es aber noch nicht ein.

Die klassische Epoche
Bis zum Erscheinen des zweiten Albums vergingen drei Jahre - eine Zeit, die die Band dazu nutzte, um einen qualitativen Quantensprung zu vollziehen. Wenn man sich nur ein Album Armias in den Schrank stellen möchte, dann bitte Legenda (1991). Die Musik ist mittlerweile eindeutig im Hardcore zu verorten. Im Vergleich zum Debüt ist der Sound wuchtiger, und durch das nunmehr vollständig integrierte Waldhorn gewinnen die Stücke an Tiefe und Atmosphäre. Der Gesang ist leider gemäßigter als zuvor, aber immer noch charismatisch. Überraschend ist die Mitte des Albums: Anstatt Hardcore gibt es auf einmal Post-Punk zu hören, wobei sich dieser stimmig in das Gesamtbild einfügt.

Das nachfolgende Album Czas i byt (1993) ist größtenteils eine Neueinspielung des Debüts, enthält aber auch einige zusätzliche Stücke. Während bei den allermeisten Bands Neueinspielungen in die Hose gehen, werden im Falle Armias die alten Songs durch die Waldhornisierung stark aufgewertet. Insgesamt ist Czas i byt so bunt wie das Cover: Neben Hardcore- und Punk-Stücken reihen sich ganz selbstverständlich eine Bob Marley-Coverversion oder ein instrumentales Folkstück ein. Das Album lohnt sich auf alle Fälle, kann aber meiner Meinung nach nicht gegen Legenda anstinken.

Armia 2.0
Nach Czas i byt war zunächst mal Schluss mit Punk. Auf Triodante (1994) klingen Armia zwar immer noch nach Armia; allerdings weist die Musik auf einmal eine starke Progressive Metal-Schlagseite auf. Ich kenne keine Platte, die ähnlich klingt, könnte mir aber vorstellen, dass Personen, die Virus (NOR) mögen, auch Gefallen an Triodante finden könnten. Mir jedenfalls gefällt das Album.

Auf den beiden Folgeplatten (Duch, 1997; Droga, 1998) bleiben die progressiven Ansätze, werden aber zunehmend durch Alternative-Klänge und Nu-Metal-Riffs ergänzt (bei gleichzeitiger Abnahme der Härte). Erstaunlicherweise schaffen es Armia auf Droga sogar, Advent von Dead Can Dance in diesen Stil zu überführen, ohne dabei den Charakter des Originals zu zerstören. Und wer das hinbekommt, darf alles. Wie dem auch sei, ich schätze sowohl Duch als auch Droga, stehe damit möglicherweise aber allein auf weiter Flur.

Das schwarze Schaf
Der in meinen Augen musikalische Tiefpunkt wird mit Pocałunek mongolskiego księcia (2003) erreicht, was aber nicht heißen soll, dass das Album in Gänze schlecht ist. Ich habe keine Ahnung, ob man die Musik jetzt als Alternative oder sonstwie bezeichnen kann; auf alle Fälle mäandert sie zwischen Pop, Folk, Punk, Post-Punk und - ähem - Nu-Metal. Neben einigen zugegebenermaßen guten Stücken findet sich mit Ukryta miłość auch akustischer Sondermüll, der hervorragend auf Pink Floyds Scheußlichkeit The Wall gepasst hätte. Und nein, ich bin nicht intolerant, sondern der objektivste Mensch auf Erden. Der einzige objektive Mensch.

Anything goes
Es gibt Bands, denen ich musikalische Fehltritte nicht verzeihe; Atrocity können beispielsweise veröffentlichen, was sie wollen - seit Gemini weigere ich mich, in neuere Werke auch nur reinzuhören. Armia bekamen dagegen noch eine Chance. Zum Glück, denn Ultima Thule (2005) zeigt die Band wieder in Bestform. Die Musik ist nicht mehr so freundlich und harmlos wie auf Pocałunek mongolskiego księcia, sondern - für Armia-Verhältnisse - fast schon schroff und abweisend und dabei gleichzeitig sehr psychedelisch. Voivod meets Pink Floyd meets The Ocean, aber irgendwie doch ganz anders. Tolles Album!

Ähnlich toll finde ich den direkten Nachfolger Der Prozess (2009), auf dem Armia teilweise zum Hardcore zurückkehren, de facto aber alle ihre bisherigen Stile einfließen lassen und trotzdem wie aus einem Guss klingen.

Weniger als ein Jahr nach Der Prozess erschien mit Freak (2009) schließlich ein Album, das als Exot in der Diskographie gelten muss. Zum einen sind die Texte erstmals in Englisch; zum anderen ist in der Musik keinerlei Armia-DNA mehr erkennbar. Stilistisch bewegt sich das Album zwischen Psychedelic Rock und Fusion/Jazzrock. Und es weiß definitiv zu gefallen, sofern man keine grundsätzliche Abneigung gegen die o.g. stilistische Ausrichtung hat.

2010 bis heute
Armia sind immer noch existent; ihre letzten beiden Alben kenne ich allerdings (noch) nicht. Vielleicht gibt es hier im Forum aber jemand, der dazu etwas schreiben kann?

Habe ich eigentlich schon gesagt, dass ich Armia liebe?
 
Geiler Scheiß! Die erste Band, die klingt, wie es der Bandname Mindfunk seinerzeit verhieß, aber nie ganz einlöste. Ich hab mich heute mal quer durchgehört, bin hilflos an Ultima Thule, diesem wilden progressiven Punk-Metal-Artrock-Bastard hängengeblieben und muss mich definitiv in das Schaffen dieser erstaunlichen Band versenken - besten Dank für den Tipp...!
 
jetzt bin ich doch etwas baff, dass Armia hier als Thread auftauchen.. habe bis ca. Mitte der 90er, vllt. darüber hinaus, eine zeitlang viel polnischen Punk gesammelt, Connections-bedingt. Und da kam man um die stets interessanten Armia nicht herum, hatte mal ein Shirt. Tapes rulten den Polen-Punk, habe mich damals in Szczecin gut eingedeckt.
 
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