Und ich glaube, weil solche Menschen bisher immer völlig unbehelligt ihr Treiben fortführen konnten, haben wir genau solche Situationen wie jetzt.
Wir haben doch jetzt eine gute Situation. Ein mutmaßlicher Missstand wurde von mehreren Personen benannt, und nun soll der Vorwurf aufgeklärt und die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. Unbehelligt konnte das Treiben sein, weil niemand es zuvor angezeigt hat. Und dies sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil auch die anzeigenden Personen den medialen Pranger fürchteten, an den sie von der einen Seite des Disputs jetzt auch gestellt werden. Ein Grund mehr, eben dieses Prangerspiel nicht zu spielen; es niemals zu spielen.
Das trotzdem millionenfaches Unrecht und Missbrauch passiert, müssen wir denke ich nicht näher erörtern. Das ist für mich ganz klar das massiv größere Problem.
Absolut. Es geschieht stets millionenfach Unrecht und Missbrauch, aber sicherlich seltener in Ermangelung von reputativen Lynchmobs, als vielmehr infolge der Häufigkeit derselben. Warum zeigen denn Missbrauchsopfer nur zögerlich an? Unter anderem, weil sie Angst vor einem medialen Lynchmob haben, der Täter-Opfer-Umkehr betreibt und sie als lügende, geld- und promigeile Verleumderinnen darstellt. Und genau das geschieht ja nun auch zu Lasten der betroffenen Frauen, weil es Leute gibt, die keine Hemmungen haben, mediales Shitstorming gegen die Ziele ihrer Verachtung zu betreiben.
Für mich ist eine Ausgrenzung und Stigmatisierung von Menschen, die über die rechtlichen Konsequenzen ihrer jeweiligen Handlungen hinaus geht, stets Unmoral und Missbauch von Macht. Die Wurzel des Übels ist es, sich kraft eigener Hybris über andere zu erheben. Das mag ein Rockstar tun, der meint, sich überall bedienen zu können. Das tut aber auch jemand, der meint, sich anmaßen zu dürfen, als Konter in einer Weise über denselben zu richten, die geeignet ist, seine gesellschaftliche Existenz zu schädigen. Beides ist Symptom desselben Phänomens: Machtstrukturen und Machtmissbrauch. Der Missbrauch der Position in der Musikindustrie hier, der Missbrauch der Macht der medialen Shitstorms dort. Und immer ist der Kern des Pudels, dass man sich selbst und sein Dünken für den Nabel der Welt hält, und meint, dieser Dünkel gebe einem das Recht oder besser noch, gar die Pflicht, sich über andere zu erheben und sie in ihrem Sosein nicht achten zu müssen und aller Welt das eigene Unwerturteil zu unterbreiten, um diese Menschen zu zerstören.
Vor allen Dingen, weil es dabei immer so klingt, als wäre derjenige der Ächtung auf sich zieht, nicht selber Schuldig an dieser Ächtung.
Du betreibst hier Täter-Opfer-Umkehr, oder nicht? An der Ächtung ist selbstverständlich immer der Ächtende schuld, nie der Geächtete, denn der Ächtende ächtet kraft seines eigenen freien Willensentschlusses. Er muss nicht ächten und es gibt keinen Automatismus, dass eine Handlung zur Acht führt. Es ist immer ein voluntativer Akt erforderlich. Niemand anders als der Ächtende hat also die Acht zu verantworten. Er mag sich gerechtfertigt fühlen, aber es steht gleichwohl zu seiner Disposition, ob er ächten will oder nicht ächten will. Ich werbe dafür, Verhaltensweisen zu ächten, nicht Menschen, selbst wenn sie sich der zu ächtenden Verhaltensweisen schuldig gemacht haben. Dies ist ein grundlegender Unterschied. Im einen Fall sagst du: "Du hast Scheiße gebaut, mach es künftig besser, ich will dir dabei helfen!", im anderen Fall sagst du "Du hast Scheiße gebaut, deshalb gehörst du nicht mehr zu uns und hast das Recht verwirkt, Teil der Gemeinde zu sein!":
Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
~ Johannes 8, 7-11
Beim Thema den Nächsten so zu achten und Richten als wäre es der leibhaftige Gott, kommen wir noch an einen ganz anderen Punkt. Den leibhaftigen Gott würde ich nämlich noch durchaus härter beurteilen. Jemand mit Allmacht und allen Möglichkeiten die es gibt und mehr entschließt sich für Massenmord an Erstgeborenen Ägyptern...ich weiß echt nicht, welches Symbol die Leute dabei als anbetungswürdig betrachten.
Der Absatz ist für die Galerie, denn natürlich kann man das Gebot auch säkular und humanistisch lesen, ohne den Bezug zum zürnenden alttestamentarischen Gott, der überdies durch eben diese Gebote von Jesus überwunden wird, indem ein neues, milderes, liebendes Gottesbild gezeichnet wird (theologisch nicht 100% Konsens, aber durchaus naheliegend: "Die Alten haben euch gesagt, ich aber sage euch!"). Du hast das Bild bemüht und dich auf ein göttliches Gebot berufen, das vermeintlich deine Position stützen sollte, also müssen wir dann schon auch im Bezugssystem bleiben, wenn wir dieses Gebot auslegen. Jetzt merkst du, dass das Zitat eher nicht zu deinem Narrativ passt, und dann ist halt eh Gott der Arsch, der selbst gecancelt gehört. Kann man natürlich machen, aber schlüssig ist das so nicht.
Aber auch so, hätten wir hier zwei Parteien über die ich befinde.
Und dir kommt die Selbstjustiz zu, wenn das Gesetz nicht ausreicht und nicht hart genug ist? Du bist der Lynchmob, der zu befinden hat, wie mit dem mutmaßlichen oder tatsächlichen Missetäter zu verfahren ist, sei er Groupie, Rockstar oder Gott selbst? Du befindest über die Acht, über die Vogelfreiheit, über die Verdammnis ohne Wiederkehr, über die Ausstoßung aus der Gemeinde, und darüber wann der Buße genug getan ist, wenn überhaupt? Du bist in dem von dir verlinkten Bibelzitat also gar nicht der Nächste, an den sich das Gebot richtet, sondern du bist Gott selbst, der über die Verfluchten zu Gericht sitzt, sie zu seiner Rechten und Linken einweist, befindest über ihre Schuld und Unschuld, über ihren Wert und Unwert, und der sie im Bedarfsfall in das ewige Feuer stürzt, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln? Das ist interessant. Oder wie wolltest du das Zitat ausgelegt haben, als du es gepostet hast?
Mir geht es darum, eben nicht über die Parteien, nicht über die Menschen zu befinden, sondern allein über ihre Handlungen, und jedem die Möglichkeit zu lassen, weiterhin geachtetes Mitglied der Gesellschaft zu sein, auch wenn er sich wider dieselbe versündigt hat. Ich meine, dass es moralisch schlicht niemandem zusteht zu fordern, dass ein Mensch über seine gesetzliche Strafe hinaus aus der Mitte der Gesellschaft hinaus verbannt wird, und noch viel weniger, durch sein Zutun dazu beizutragen, dass dieser Mensch von der Gesellschaft geächtet und ausgegrenzt wird.
Das entnehme ich zuforderst den Zitaten des längst verblichenen Zimmermannssohnes aus Nazareth, und verbindlich nicht, weil ich ihn für den lebendigen Gott hielte, sondern einfach für ein recht schlaues Kerlchen mit teils ziemlich klugen Botschaften, wenn es um ein friedliches Zusammenleben geht. Keiner ist unfehlbar, und auch ich frage mich manchmal, ob diese Gebote der Nächsten- und Feindesliebe wirklich für jeden gelten sollten, wenn man so an Leute wie Putin, Stalin oder Mao denkt, aber jo... im Zweifel gelten sie echt für jeden, denn die Jungs zählen verbindlich zu "den Geringsten unter unseren Nächsten". Wer würde das bestreiten wollen? Trotzdem habe ich immer wenigstens ein bisschen ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich recht ungeniert mit Anti-Putin-Cancel-Culture arrangiere. Aber da bin dann ich an dem Punkt, wo ich mich sehenden Auges wider meine Nächsten versündige. Nobody is perfect.