Auf individuell persönlicher Ebene kann jeder für sich entscheiden, mit wem er interagieren will oder nicht. Die private Ahndung nicht justiziablen Fehlverhaltens quasi durch Liebesentzug finde ich zwar grundsätzlich moralisch auch schon sehr problematisch, wenn sie rein voluntativ ist, weil Liebesentzug ein brutales Instrument der Machtausübung sein kann, aber letztlich ist sie wohl hinzunehmen, da man die persönliche Gefühlswelt des Individuums eben nicht verbiegen kann, und wenn jemand einen so empfundenen Missetäter eben nicht mehr als Kontakt ertragen kann, ist das einfach zu akzeptieren.
Das aktive Betreiben der gesellschaftlichen Acht legalen Verhaltens über das eigene Unwerturteil hinaus, durch gezielt gegen die gesellschaftliche Integration eines so empfundenen Missetäters gerichtete mediale Aktivitäten indes halte ich tatsächlich in allen mir derzeit vorstellbaren Fällen für übergriffig, missbräuchlich und unmoralisch. Du kannst gerne versuchen ein Beispiel zu finden, wo ich zugeben muss, dass ich es hier doch anders sähe, aber ich kann mir gerade echt keinen Fall vorstellen, wo ich es zur Änderung legalen Verhaltens oder zur Nachvergeltung bereits geahndeten oder in der Ahndung begriffenen illegalen Handelns für angemessen hielte, die Gemeinschaft dazu aufzurufen einen einzelnen Menschen in all seinem Wirken zu boykottieren. Möglicherweise sage ich gleich: Okay, du hast recht, das habe ich nicht bedacht, weil ich in meiner tiefen Überzeugung hiervon irgend etwas ausgeblendet habe, aber an sich glaube ich, dass ich da recht stabil bin. Bin aber natürlich stets bereit, mich der Herausforderung meines Gewissens zu stellen.
Lass mich da mal von einer anderen Seite kommen. Wenn mein Sohn draußen mit seinen Freunden Fußball spielt und einer hält sich konstant nicht an die Regeln, dann führt das dazu, dass er nicht mehr mitspielen darf. Wenn einer in meinem Freundeskreis konstant sexistische Witze reißt und auch dann nicht aufhört, wenn ihn alle deswegen anpampen, dann wird er nicht mehr eingeladen. Wenn in meinem Team in der Arbeit einer konstant quer schießt und sich einfach nicht an die Regeln im Ream halten will, wird er aus dem Team genommen. Das alles sind soziale Sanktionen von Fehlverhalten, das nicht justiziabel ist, aber eben doch geahndet werden muss, weil Gruppen sonst nicht als Gruppen funktionieren können. Das bedeutet nicht, dass jede Form davon richtig und unproblematisch ist. Aber dass es das generell geben muss, halte ich für ziemlich unstrittig. Es ist auch aus meiner sich nicht per se unmoralisch oder Machtmissbrauch, aber natürlich kann es das sein.
Diese Ebene lässt sich aus meiner Sicht auch auf die Gesellschaft hochskalieren. Es muss da möglich sein, einen Bruch von Konventionen zu sanktionieren. Der kritische Teil daran liegt nicht im "ob", sondern im "wie". Vieles was da passiert - gerade im Bereich Social Media, Shitstorm, etc. - ist aus meiner Sicht hochproblematisch. Du weißt, dass ich mit einigem sehr ähnliche Bauchschmerzen haben wie du. Aber wie gesagt, da geht es eher um die konkrete Form in spezifischen Fällen. Das muss man auch einzeln diskutieren. Aber grundsätzlich denke ich nicht, dass die Möglichkeiten von Sanktionen hier immer falsch und abzulehnen ist oder auch nur verzichtbar wäre.