Cryo Chamber Jahresrückblick 2022
Insgesamt war es ein starkes Jahr bei CryoChamber. Und ein Jahr, in dem sich große Themen unserer Zeit spiegeln.
Corona zum Beispiel. Ich kenne zwei Personen, für die
Mount Shrine das höchste der Gefühle im Dark Ambient ist. Für mich nicht, aber wer die Vorgänger mochte, kann auch „All Roads Lead Home“ unmöglich schlecht finden – eine gute halbe Stunde in Synthie-Drones gegossener Seelenfrieden. Das Album ist das letzte unter dem Moniker Mount Shrine, denn Cesar Alexandre, der Macher dahinter, verstarb im April 2021 an einer Covid-Infektion, in seiner Heimatstadt Rio de Janeiro, wo die Pandemie in diesem Zeitraum eskalierte und aufgrund der schieren Menge an Erkrankten viele nicht mehr medizinisch versorgt werden konnten. Cesar Alexandre wurde 27.
Und da ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Aus Kiew stammt Sasha Puzan aka
ProtoU. Sehr sonderbar und daher interessant ist ihr Album „Memory Alpha“ ausgefallen. Die Stücke nehmen unterschiedliche Richtungen ein: Feierliche Melodiösität („Somniat Praeterita“) trifft auf Cluster-artige Orgalakkorde („Fragmented“) trifft auf reine Soundcollagen („Capsule of Decaying Dreams“) trifft auf Sci-Fi-Computerspiel-Ästhetik („Replica“). Die typischen Drones sind auch dabei. Insgesamt wirkt das Album aber sehr ernst und dunkel, nicht so Ethno und verkifft, wie ich ProtoU in Erinnerung habe. In seinem Variantenreichtum entdeckungswürdig.
„Memory Alpha“ erschien am 1. März, wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion. Sasha Puzan arbeitet in Kiew als Grafikdesignerin, Model und Musikerin. Sie gehört zu den Veranstaltern der Kyiv Voguing Nights, die Teil des LGBT-Szenelebens in Kiew sind. Sie verkörpert die progressive, liberale Ukraine, die Putin zerstören will. Als die ersten Raketen in den Kiewer Vororten einschlugen, floh sie mit ihrem dreijährigen Kind nach Warschau. An der polnischen Grenze musste sie wie so viele wegen des ablehnungswürdigen Kriegsrechts der Ukraine ihren Ehemann Oleg Puzan zurücklassen.
Oleg Puzan ist in der Dark-Ambient-Szene ebenfalls kein Unbekannter und nennt sich dort
Dronny Darko. Der
Telegraph interviewte ihn im März in Lwiw. “Personally, I always looked to Russia as a wiser neighbour who would protect us. […] I still can’t believe this is happening.“
In all dem Leid und Chaos hat Dronny Darko im Juli ein neues Album in die Welt gesetzt. Während mir als Vertreter der Weichei-Fraktion sein bisheriger Output meist zu geräuschbasiert war, ist ihm mit „Dissolving into Solitary Landscapes“, einer Kollaboration mit einem gewissen
G M Slater, ein Treffer gelungen, ein sehr beruhigendes Album, das einen in eine dunkle, warme Höhle eintauchen lässt. “My music is ambient and pacifistic (...). We want to play music. We don’t want to kill people."
Was bleibt? Vielleicht neben viel Hilfe auch ein wenig Demut darüber, dass wir uns Relitätsflucht, ob nun in Form von Dark Ambient oder was auch immer, leisten können.
Abteilung sonstige Ausrufezeichen
Von der Ukraine nach Serbien. Scorpio V, Monasterium Imperi und Eshaton sind schon recht nett, und wer die angeblichen oder tatsächlichen Unterschiede zwischen gregorianischen, byzantinischen und gotischen Gesängen sezieren möchte (natürlich Dark-Ambient-mäßig gewendet), kann sich gern durchhören, insbes. die letzte Monasterium Imperi ist sehr schön. Aber mal Butter bei die Fische: Das hochwertigste aller Choral-Projekte der anonymen Person, die das Label Prometheus Studio verantwortet, ist immer noch
Metatron Omega. Drei Jahre nach der eher schwerverdaulichen, dröhnigen (aber immer noch tollen) „Evangelikon“-Scheibe ist dieses Jahr das fünfte Album „ISIH“ erschienen und geht wieder einen Schritt zurück zu den halligen Sounds von „Illuminatio“, ergänzt um rituelle Percussions. Die Produktion hätte etwas mehr Bässe vertragen können und es fehlt der Überhit, den es auf jedem der Vorgängeralben gab. Aber in Sachen Kirchenatmo, Spannungsbögen und überhaupt wie immer state of the art.
„Soludenia“, der Zweitling von
Skrika, ist ein Synth-basiertes Album, das mit gefräßigen Sounds irgendwelcher Weltraumungeheuer unterlegt ist. Sehr futuristisch, episch, cineastisch, nach hinten raus meditativ. Nicht superdark, aber harmonisch absolut Metal-kompatibel. „Cerria's Lament“ erinnert mich an die Funeral-Doomster Ea.
„Timeless“ von
Mindwarden ist ein in Teilen Klavier-basiertes Album, das durch die Unterbrechung mit dunklen Klangcollagen und den Einsatz von Field Recordings aber immer noch klar im Dark Ambient zu verorten ist. Sehr meditativ, zugänglich und melodieorientiert, erinnert das Ergebnis an Mount Shrine, nur mit mehr Variation.
Nachdem ich alle Vorgänger nur semiinteressant fand, ist „Murken Hollow“ das erste Album von
Dead Melodies, das mich einfängt. Liegt vielleicht daran, dass neuerdings Dark-Jazz-Einflüsse zu hören sind; außerdem wirkt alles sehr durchdacht und subtil, etwa das wildgewordene Saxophon in „Forbidden“. Manches („Polaroid“) erinnert atmosphärisch an die herrlichen Noir-Eskapaden der beiden Atrium Carceri/Cities Last Broadcast-Kollaborationen.
Abteilung Fragezeichen
Die neue
Randal Collier-Ford habe ich noch nicht kapiert; der Mann weiß total, was er macht, und schüttelt mühelos tiefgründige, stockfinstere Apokalypsenatmo aus dem Hemdsärmel, aber die wie immer irgendwie um die Ecke komponierte Gangart macht es einem schwer, sich einzulassen. Wird bestimmt noch.
Die neue
Alphaxone ist gut gemacht, aber Mehdi Saleh hat schon viele Alben in dem Stil veröffentlicht. Auch hier braucht es vielleicht einfach Zeit.
„Colossus“, ein Kollaborationsalbum von
Atrium Carceri und
Kammarheit, konnte mit den beiden Beteiligten ja nicht schlecht werden. Es ist aber auch nicht das von mir erwartete Topalbum und wirkt nicht so inspiriert wie andere CC-Kollaborationen. In der zweiten Hälfte nimmt man stärker die je individuelle Klangsprache von Pär Boström („Vaults“) und Simon Heath („In the Black Stone“) wahr als in der ersten, die einen überraschend sakralen Touch hat, mit kathedraleskem Hall und Synthies, die an Chöre erinnern. „Quietude“ klingt wie eine Zweitverwertung aus der „Echo“-Kollaboration (mal „Drawn like a Moth“ dagegenhalten, dieselben Akkorde, sogar dieselbe Tonhöhe), an der die beiden ja auch beteiligt waren. Und wenn man dann noch „The Great Order of Things“ von der „Black Stage of Night“-Kollaboration vergleicht, an der beide auch beteiligt waren (wieder dieselben Akkorde, dieselbe Tonhöhe – soundmäßig aber ein anderer Stil), wird es richtig skurril. Nun ja, Kritiker sagen eh, dass in dem Stil ein Stück wie das andere klingt.
Alles Andere …
… war nicht so meins. Die langweilige Beyond the Ghost kackt meilenweit gegen ihre Vorgänger ab. Die neue Apocryphos fällt stilistisch zwar in mein Beuteschema, hier nerven aber die Percussions. Nach dem Cyberpunk-beeinflussten Album kann man bei CryoChamber jedes Jahr die Uhr stellen - diesmal stammt es von Cryptios, nennt sich „Vestigium“ und ist sehr warm und analog ausgefallen, nutzt sich aber schnell ab. Die neue Lovecraft-Kollaboration von drölfzigtausend Akteuren, diesmal zu „Dagon“, ist nach zwei stärkeren Vorgängern wieder recht lahm ausgefallen, auf die zum Jahresende noch angekündigte "Tsathoggua" habe ich gar keine Lust mehr, das Konzept hat sich irgendwie totgelaufen. Wenn Dronny Darko mit einem notorischen Langweiler wie Ugasanie kollaboriert, halten sich meine Hoffnungen ohnehin in Grenzen. Die neue „Tombs“-Kollaboration hat zwar durch das Mastering von Simon Heath einen einheitlichen Sound, durch die unterschiedlichen Akteure, die jeweils Einzelsongs beisteuern, aber dennoch Kompilations-Charakter, und je nach Geschmacksausrichtung mag man halt mehr diesen oder jenen Track (ich lediglich Desiderii Marginis und für mich überraschend Mortiis – zweii Topbeiiträge).
Na ja, ich könnte hier noch ewig rummaulen, am Ende bleibt es bei: Starkes Jahr.