Man oh Mann, dieses Jahr fliegt. Zeit, mir mal eine Scheibe vorzunehmen, die in die Ruhmeshalle des Metal gehört:
Lese ich so manchen Kommentar im Sava-Thread, dann schaudert es mich, welche Begrifflichkeiten teils mit diesem Album verbunden werden: Kommerz ist eine solche Begrifflichkeit. Wenn "Streets" auch nur einen Funken kommerzielles Kalkül beinhaltet, dann soll mich der Teufel holen.
Die Intensität dieses Album sucht seinesgleichen, es ist für mich ein Rätsel, wie man die Qualität und das Standing dieses Albums in irgendeiner Form auch nur im Geringsten in Zweifel ziehen kann. "Streets" ist der Höhepunkt im Schaffen der Oliva-Brüder, die ultimative Verbindung aus Metal und Bombast. Es ist für mich bis heute absolut unbegreiflich, warum es nie zum Musical gekommen ist, das man aus diesem Werk machen wollte: womöglich war es am Ende doch zu kommerziell.
Der Opener und Titeltrack ist schwermütig, getragen, bereitet den Nährboden für die Story des Albums. Die Screams von Jon Oliva, die schneidende Gitarre seines Bruders, ein absoluter Mördertrack. Man höre dieses Stück im Halbdunkel und lasse sich einfach in die Stimmung fallen: bedrohlich, faszinierend schön zugleich, die Atmosphäre, die das Teil erzeugen soll, die erzeugt es auch - die Straßen bei Nacht, nicht mehr all zu geschäftig, zwielichtig, der Regen bricht sich im Licht der Straßenlaternen. Was für ein Song. Kann man Text und Musik intensiver verbinden?
Wenn "Streets" einen Makel hat, dann sind es die Keys in "Jesus saves": ein rundum gelungener Hardrocksong, simpel im Aufbau, eingängig ohne Ende (wer mag, der darf "kommerziell" dazu sagen), Gesang und Gitarre ragen auch hier heraus und machen aus einem eigentlich gängigen Rocker einen kleinen Überflieger - wären da nicht diese Keys. Im Kontext der Story macht der Song und auch dessen Bauart absolut Sinn. Musikalisch mag er ein wenig wie ein Fremdkörper wirken, betrachtet man den Rest des Albums, für sich ist er sicher ein kleiner Hit. Hätten Bon Jovi ihn veröffentlicht, womöglich würde er in den Stadien der Welt aus Tausenden von Kehlen gegrölt.
Wie man in knapp dreieinhalb Minuten Dramatik, Epik und gar klassisch anmutende Elemente verarbeiten kann zeigt "Tonight he grins again": wer hier nicht ein wenig mitleidet, dem ist nicht zu helfen. Die Art und Weise, in der Jon hier die Vocals genau an den richtigen Stellen einfach mit Intensität würzt lassen jeden technisch noch so versierten Sänger schlicht vor Neid erblassen: in Jons Gesang steckt Herzblut, Song wie eben dieser geben ihm die Gelegenheit, das nur noch mehr zu betonen.
"Strange Reality" hat mich damals nicht nur aufgrund der "Halbnamensgleichheit" auch ein wenig an "Strange Wings" vom Mountainkönig-Album erinnert. Ist Letzteres noch recht geradlinig, so biegt man hier in Sachen Bridge und Chorus in verschiedene Richtungen, was dem Song (allein dieses Riff! So einfach, so genial), ein gewisser Musicalcharakter kommt hier durchaus zum Tragen, einfach aufgrund des Songaufbaus. Und doch ist man meilenweit davon entfernt, sich in verwässerten Belanglosigkeiten zu verlieren, wie dies bei den Epicas und sonstigen ähnlich gelagerten Bands der späteren Phasen der Fall ist: die Gitarre darf schneiden, die Erhabenheit gemahnt eher an Queen oder Meat Loaf denn an Plastiksounds.
Nach "Tonight he grins again" haut Jon in "A little too far" erneut gesanglich die ganz großen Emotionen raus, einfach nur mit Pianobegleitung. Man verinnerliche sich, dass es hier um ein Konzeptalbum geht, demzufolge braucht es - gerade aufgrund der Story - hier einfach Abwechslung und Emotion. Einfach unwiderstehlich schön.
"You're alive" hat erneut diese Meat-Loaf-Schlagseite: Ein Zwischenspiel von nicht einmal 2 Minuten, ein Silberstreif nach der Depression des vorangegangen Tracks, allein was hier in Sachen Gitarrenarbeit in nur 2 Minuten passiert schaffen zig Bands in 10-minütigen, aufgeblasenen Bombastepen, in denen die Giarreros beweisen wollen, was sie alles drauf haben. Ein Criss Oliva hatte dies nicht nötig und brettert noch heute so ziemlich jeden Gitarristen mit Links an die Wand. Dieser Mann war eine Naturgewalt und benötigte niemals eine übermäßige Selbstdarstellung, um dies unter Beweis zu stellen.
Mit "Sammy and Tex" wird es blutig - und metallisch. Hier sind Savatage ganz nah an ihren Wurzeln, das Ding hätte auch problemlos auf "Sirens..." oder "Dungeons..." stehen können. Etwas mehr als 3 Minuten Metal mit allem, was Metal ausmacht, ohne Wenn und Aber.
"St. Patricks" ist erneut im Kontext des Albums zu sehen - und bringt die Stimmung des Textes einfach hervorragend rüber. Allein diese kleinen Details (höre: dezent eingestreuter Orgeleinsatz), dann dieser fast schon John-Miles-artige Part in der Mitte, gefolgt von einem weiteren Killersolo von Meister Criss - sorry Leute, es geht einfach nicht besser.
Wohnte "St. Patricks" eine gewisse Reue inne, so ist "Can you hear me now" einfach nur düster, dunkel - und greift die bereits im Opener vorweggenommene Stimmung erneut auf. Verzweiflung, Trauer, Ausweglosigkeit - kann man das besser darstellen, als in diesem Song geschehen? Dieser Wechsel der ruhigen, regelrecht klagenden Vocals, einfach mit Drums verziert (ich wüsste keine Band, die ein ähnliches Stilmittel je so effektiv genutzt hätte), dann dieser regelrecht explodierende Chorus, die kippende Stimmung nach etwa der Hälfte, diese Gitarrenarbeit von Criss (ich muss das noch mal betonen: es gibt nicht einen mir bekannte Metal-Gitarristen, der derart effektiv mit Stimmungen arbeiten kann - das ist einfach zum Niederknien), dann wieder dieser Chorus: ein Song der weitaus mehr ist als "nur" ein Song auf einem Konzeptalbum.
Meine Erstlauschung von "Streets" erfolgte seinerzeit im Auto. Ich fuhr von einem Kumpel heim, die CD war bis hierher gelaufen....im Kofferraum eine Bassbox und entsprechendes Lautersprecherequipment (das Auto war geliehen...), ein Equalizer mit Schwanenhals...und dieser akustische Part....und mit einem Mal fliegen Dir nach etwas mehr als einer Minute die Ohren weg: diese Drums, dieser Gesang, die nächste Stufe wird gezündet mit der Gitarre, diese wahnsinnige Intensität....4 Minuten Wahnsinn, weitere 4 Minuten großartigster Musik, die in einem wahren Instrumentalmassaker münden. Habe ich eigentlich die überirdischen Leistungen von Criss Oliva schon erwähnt...?
"Ghost in the Ruins" beginnt als klassischer Metal-Stoff der Savatage-Bauart: erkennt man sofort, ist gut und eigentlich unerreichbar. Neben dieser Band wirken so, sooo viele andere Bands einfach wie Dilettanten. Songs wie auch Lyrics stellen auch hier einmal mehr unter Beweis, was für eine grandiose Kombo Savatage waren: dazu dieses irgendwie unmetallische Solo, absolut effektiv gesetzt, ein wenig jazzig sogar, einfach...unwiderstehlich, fast schon psychedlisch so ab der Mitte. Die wahre Qualität dieses Dings erschließt sich im Übrigen am Ehesten in der regelrecht wahnsinnigen Live-Fassung auf dem gleichnamigen Live-Album, das seinerzeit nach dem Tod von Criss erschienen ist.
Mach einer mag "If I go away" für eine Kopie von "When the Crowds are gone" halten - dem entgegne ich: und wenn schon! Davon gab es gar nicht genug Kopien geben, der absolute Gegenentwurf zur klassischen "Bed-of-Roses" und AOR-Balladenschmonzette, das Ding hat Tiefgang, selbst losgelöst vom Kontext des Albums. Groß. Man muss natürlich schon die Brüder Oliva mit im Boot haben, um das rund zu schnüren - wobei mir hier der Hinweis erlaubt sei, dass man Savatage niemals covern sollte: es kann nur schief gehen.
"Agony and Ecstasy" ist erneut feinster Sava-Metal: bestens plaziert hinter dieser großartigen Ballade, einfach rund - einfach perfekt auskomponiert. So, wie bisher jedes Stück auf diesem Juwel von einem Album.
Mit "Heal my Soul" biegt "Streets" auf die Zielgerade ab: tatsächlich sehr musicalhaft, wunderbar interpretiert, das, was später als Trans-Siberian-Orchestra folgen sollte wird hier schon ein wenig vorweg genommen.
"Somewhere in Time" vertieft die Thematik, die mit "Heal my Soul" ihren Anfang nahm: eher wieder auf einem Queen-ähnlichen Niveau, ehe es dann in diesem wunderbaren Riffing auf diese schöne, ja, versöhnlich und hoffnungsvoll wirkende Schiene abbiegt. Erneut kaum mehr als 3 Minuten - aber 3 Minuten, die einfach im Hirn bleiben - und auch hier bin ich bei der Parallele zu John Miles, gerade zum Finale hin.
Natürlich sind die Parallelen von "Believe" und "When the Crowds are gone" mehr als offensichtlich - gleichzeitig ist es der denkbar einzige Abschluss für ein Konzeptalbum, das in eine Reihe gehört mit allen großen Namen dieses Untergenres. Gleich, wie man es auch drehen und wenden mag: beide Titel sind in ihrer Dramaturgie völlig einzigartig im Metalbereich, die Art, den Hörer zu packen ist mit kaum einer anderen Ballade vergleichbar, ein "Nothing else Matters" wirkt im Vergleich wie ein mißlungener Versuch einer Ballade, ein "Wasting Love" fast schon wie eine Parodie auf eine Ballade.
Über "Streets" darf es keine 2 Meinungen geben: "Streets" lebt nicht vom "Metal", es atmet eine atmosphärische Dichte, eine Emotionalität, die ihresgleichen sucht. Ein Meilenstein. Und das lasse ich jetzt einfach so stehen, denn viel mehr gibt es über dieses Album nicht zu sagen und ich spare mir auch Vergleiche mit Großtaten von "A pleasant Shade of Grey" oder "Operation Mindcrime": Savatages "blaues" Album steht ganz allein für sich, es ist die Spitze dessen, was man aus der Verbindung "Metal" und "Musical" (ja, tatsächlich) machen kann.