Max Frisch - Homo Faber
Inhalt: Eigentlich glaubt der Schweizer Ingenieur Walter Faber nicht an Zufälle, also müsste er es wohl anders nennen, was ihm im Jahr 1957 widerfährt: Auf einem Flug nach Südamerika, der durch einen Notlandung in der mexikanischen Wüste unterbrochen wird, trifft er niemand geringeren als Herbert, den Bruder seines deutschen Studienkollegen Joachim Hencke, der - obschon ursprünglich eigentlich Arzt - mittlerweile im mittelamerikanischen Urwald eine Tabakplantage leiten soll. Die aus einer Laune heraus - wohl der Überdruss mit seiner Arbeit und der Beziehung zur flatterhaften Ivy - begonnene Suche nach Joachim erweist sich als Odyssee, zumal sich Joachim auf der Plantage rätselhafterweise längst erhängt hat. Immerhin ist herauszubekommen, dass Joachim vor Jahren mal mit Hanna Landsberg verheiratet war, mit der auch Walter in den Dreißigerjahren eine unter unschönen Umständen beendete Beziehung pflegte. Beruflich reist Faber anschließend weiter nach Europa, aber aus dem selben Überdruss entscheidet er sich diesmal für einen Ozeanliner anstelle des Fliegers... und wieder ist es der Zufall, denn ohne diese Entscheidung wäre er wohl nie in die Nähe einer jungen Frau namens Elisabeth gekommen, der er nachfolgend in Paris erneut über den Weg läuft (oder umgekehrt), mit der er schließlich durch Europa reist, ihr dabei immer näher kommt und dann letztlich erschüttert feststellen muss: Elisabeths Mutter ist Hanna, und er ist ihr Vater.
Kommentar: Das war im Herbst 2003 unsere Schullektüre im Deutschunterricht, und nach 20 Jahren kann man sowas ja gerne noch mal lesen. Mich hat das natürlich erst mal eher zu einem Nachdenken über das Für und Wider von Schullektüre angeregt: Einerseits muss ich rückblickend feststellen, dass die Auswahl in der Regel schon durchaus gut war und uns unbedarfte Jungspunde vergleichsweise behutsam an "hohe" Literatur herangeführt hat. Störend war allerdings das Zwanghafte daran: Alles an so einem Buch *musste* im Unterricht dann auch interpretiert werden, und zwar nach Möglichkeit so, wie es dem Lehrer/der Lehrerin genehm war. Und damit dabei auch wirklich nichts schiefgehen konnte, standen ja in diesen Bänden noch umfangreichste Erläuterungen zu allem Möglichen drin: Worterklärungen, Übersetzungen fremdsprachiger Passagen, biografische Notizen sowie welche zur Entstehung des jeweiligen Texts und noch ein Überblick über die bisherige Rezeption dieses Werks, das wiederum mit allen bislang gezogenen Ansätzen zur Interpretation. Das kam dabei alles mehr oder weniger hoch, und das Erschreckende daran war, dass das rückblickend doch ziemlich entmündigend für die Schüler wirkte - im Sinne eines frontalen, passivierenden "Schaut mal, Kinder, so geht Interpretation!" anstelle eines partizipativen, aktivierenden "Jetzt macht mal selber - was steckt für euch so in diesem Text drin?". Andererseits natürlich: Ob man dazu ohne diese Vorlagen überhaupt in der Lage gewesen wäre, ohne sowas erst mal zum Zwecke der Nachahmung gezeigt zu bekommen? (Das von Klassenkamerad Fabian auf die letzte Seite meines Bandes gekritzelte, nicht wirklich fundiert begründete "Walter ist schwul!" lässt jedenfalls einen derartigen Schluss zu.)
"Homo Faber" selber stellt sich jedenfalls rückblickend wiederum als - wie angedeutet - schon recht gelungen dar. Der Schreibstil ("Ein Bericht", wie es im Vorsatz heißt, zumal von einem sich selbst als "sachlich" beschreibenden Erzähler) kontrastiert in seiner eher knappen, nicht ausschweifenden Erzählweise mit der tragischen Handlung, erinnert ein wenig an den Filmstil eines Jean-Pierre Melville ("Der eiskalte Engel", "Vier im roten Kreis") und nimmt objektiv betrachtet dem Roman jenen Charakter als Schinken, als den man ihn zur Schulzeit immer empfindet. Was gibt es ansonsten zu sagen? Natürlich ist Walter Faber ein selbstgerechter Wicht, der seinen eigenen Ansprüchen seltenst gerecht wird und sein diesbezügliches Scheitern trotz "sachlicher" Erzählweise eigentlich nie kaschieren kann: Er, der Gefühle nach eigenem Bekunden regelrecht verachtet, trifft trotzdem andauernd völlig irrationale Entscheidungen und stellt sich auch in anderen Dingen als regelrecht bigott heraus - er, der Verfechter von Technokratie, Wissenschaft und Geburtenkontrolle, raucht wie ein Schlot und säuft wie ein Loch, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er es nicht besser gewusst haben könnte und hier willentlich Ignoranz aufwendet und/oder gesellschaftlichen Normen genügen möchte. Das mag aus heutiger Sicht natürlich einen interessanten Blick auf die Bräuche anderer Zeiten werfen (das, was für einige Leute heute ein rotes Tuch ist und von jenen als "N-Wort" umschrieben wird, fällt im Text ebenso - pfui, also bloß raus mit Frisch aus dem Schulkanon...!), ist aber aus meiner Sicht wohl eher geeignet, um diesen über alle Maßen widersprüchlichen Charakter als latent unzuverlässige, mit Makeln behaftete Figur zu zeichnen, wie sie gute Literatur eben seit jeher auszeichnet. Bezeichnenderweise ist über die übrigen Figuren der Handlung nur ein verschwindender Bruchteil von dem zu erfahren, was Frisch Faber direkt oder indirekt über sich selber mitteilen lässt, und Egozentrik als weiteres Laster passt ebenfalls gut zu dieser Typisierung.
Angesichts jüngerer Ereignisse erscheint noch folgende Deutung für die Gesamtanlage von "Homo Faber" denkbar: Die alte Generation (Walter, der sicherlich auch der Lindnerschen Maxime "Das ist eine Sache für Profis" zustimmen würde) verpfuscht bis zerstört durch ihr selbstsicheres und egoistisches Gebahren die Zukunft der jungen Leute (Elisabeth) und ruiniert auch sonst durch alles andere als nachhaltigen Konsum den Planeten, wobei "Kultur" nicht mal als Ausrede vorgeschoben werden muss (in dieser Hinsicht war Faber seiner Zeit offenbar schon voraus). Rein hypothetisch gefragt würde mich natürlich interessieren, was unsere Lehrerin damals zu dieser Interpretation gesagt hätte. Vielleicht sollte ich mir mal eine aktuelle "Homo Faber"-Ausgabe besorgen, um zu schauen, ob derartige Rezeption bereits Eingang in die Literaturwissenschaft zu diesem Buch gefunden hat.