Ja, aber ich vermute, es ist Fluch und Segen zugleich für Jim. Matheos wirkt auf mich wie ein Mensch, der über kein großes Selbstwertempfinden verfügt, jemand auch, der recht vorsichtig im Umgang mit anderen Menschen zu sein scheint. Ich kann mich an eine Aussage von ihm erinnern, daß er zu Mark Zonder eigentlich nichts sagen könne, weil er ihn nie genauer kennengelernt habe (sic). Das teilt Matheos mit, nachdem er fünfzehn Jahre mit dem Mann zusammengespielt und teilweise -gelebt hat!
Matheos erwähnt auch häufig, er könne kaum eine seiner Platten mit gutem Gefühl anhören, und auf den ersten Blick könnte man meinen, er kokettiere lediglich damit - wie es so viele andre tun. Aber das ist wohl nur die Außendarstellung einer zutiefst verinnerlichten Natur, die man da miterlebt. Jim hat ja auf dem letzten FW-Album einen Text über seine unstete Kindheit geschrieben, die ihm wohl nichts weniger als das Gefühl von Sicherheit vermittelt hat. Besonders in diesem Punkt gebe ich Dir unbedingt Recht, daß Jim sich im Laufe seiner Karriere immer weiter darin vorgewagt hat, seine persönlichen "Probleme" (ich setzte das in ganz dicke Anführungszeichen, weil es natürlich nicht an mir ist, irgendwem sowas zu attestieren, und ich meine das Wort "Probleme" auch ausschließlich im nicht-pathologischen Sinne) künstlerisch zu verarbeiten. Und zwar "zu verarbeiten" evtl. sogar in beiden Verständnisweisen, einmal es in Kunst umzuarbeiten und dann im alltagssprachlichen Sinn - aber das entzieht sich eben unserer genauen Kenntnis und ist für ein künstlerisches Werk auch reichlich nebensächlich. Wichtig ist nur, was letztlich geboten wird, und nicht, woher es stammt.
Aber das Thema, auf das wir gekommen sind, war ja die "Beseeltheit" der Musik von Fates Warning, und deshalb darf man vielleicht vor diesem Hintergrund auch über die persönliche Komponente sprechen. Jim Matheos wirkt auf mich geradezu wie der Prototyp eines Künstlers, der seine Arbeit zum Vehikel all´ der Themen macht, die ihn
persönlich affizieren. Es ist ja eine Sache, z.B. Songs gegen Trump zu schreiben und sich damit ein gemeingesellschaftliches Thema zu eigen zu machen, eine andere, sich wirklich im Kompositionsprozeß als Mensch zu öffnen und etwas von sich zu geben. Das tut Jim meiner bescheidenen Meinung nach wie kaum ein anderer und das ist - neben der unfaßbaren kompositorischen Qualität seiner Arbeit - sicherlich auch mit das Anziehendste an seiner Musik.
Für mich war paradoxerweise der Höhepunkt seiner "künstlerischen Selbsthematisierung" leider zugleich der Tiefpunkt seiner musikalischen Innovationskraft. Ich rede natürlich wieder mal von den so pösen Nullerjahren inkl. der ersten Jahre der Zehner, in denen Matheos´ Musik in Depressivität regelrecht zu ersticken drohte. Du siehst das, wie Du ausgeführst hast, ganz anders, lieber Rage, für Dich gibt es so eine Diskrepanz eben überhaupt nicht - im Gegenteil, wenn ich Dich recht verstanden habe. Dich scheint das besonders zu berühren, sowas wie "Disconnected Pt.1" oder eben auch FWX, wo ich mich etwas distanzieren muß, um nicht mit Jim die Wonnen der Wehmut zu sehr auszukosten. Auch die repetitiven Elemente und die Übernahme von Industrial-Sounds in den Bandkontext sind ein Kennzeichen dieser Phase gewesen.
Ich bin froh, daß sie vorüber zu sein und mit den letzten schneidend-düsteren Ausläufern auf "Darkness In A Different Light" seit TOF endlich wieder einer zupackenderen Dynamik Platz zu machen scheint. Aber in jeder Phase seiner Karriere (mit Ausnahme der ganz frühen vielleicht) hat Matheos einen Tiefgang an den Tag gelegt, von dem sich fast die gesamte Konkurrenz in die Wälder flüchten müßte, ginge es auf dieser Welt mit rechten Dingen zu und nicht vielfach doch eher mit style over substance.
Die Fotos von John und Jim im Booklet zum "Sympathetic Resonance"-Album drücken für mich immer, wenn ich sie betrachte, das sympathische und sympathetische Wesen dieser beiden Musiker wunderbar aus. Da hocken sie unter den Dachbalken, Bilder fast wie aus einem Jugendzimmer, inmitten ihrer Gitarren und CDs wie zwei Fans, die gerade die Platten ihrer großen Vorbilder anhören. Dabei nehmen sie selbst Meilensteine der Rockmusikgeschichte auf. Dieses totale, authentische Understatement ist sicher ein Ingrediens im Fates-Cocktail, das die Mischung ausmacht.
Das sind zwei Menschen, die sich nie auch nur für einen einzigen Tag lang für etwas Besseres gehalten haben können als andere. Schon eine Seltenheit im Rockzirkus. Ich meine, wenn wir über John Arch reden - der arbeitet als Zimmermann - mittlerweile nicht mehr selbständig, aber sicherlich weiter mit allem Herzblut - und alle Jubeljahre mal geht er hin und singt wieder einige der aufsehenerregendsten, komplexesten, originellsten und mitreissendsten Gesangsparts aller Zeiten ein und dann geht er zurück nach Hause, pflegt seinen kranken Vater und drechselt an der Kommode für die alte Mrs. Miller weiter, weil das Ding fertig sein muß, wenn ihre Enkel zu Besuch kommen.
Tiefgang kannst du dir nicht kaufen, den mußt du dir erarbeiten. Und das hat wenig mit dem zu tun, was man auf dem Berklee-College lernt oder in der Pop-Akademie in Mannheim, das hat viel mehr mit den Büchern zu tun, die du gelesen hast, den Beziehungen, die du gehabt und gepflegt hast, den Sorgen, die du dir machen mußtest (um dich und andere) und vor allen Dingen den Momenten, in denen du dich selber hinterfragen mußtest. Und
hier sehe zumindest ich schon auch eine Art Generationsfrage auftauchen - hatten wir darüber nicht schonmal irgendwo gesprochen?
Ich glaube, daß es nicht egal ist, wie man seine Zeit als Kind und Heranwachender verbringt. Daddelt man an der Playstation oder drückt man sich die Nase an der verregneten Fensterscheibe platt und fragt sich, ob man wirklich existiert und wie die anderen Kinder einen wohl wahrnehmen werden? Bei Jim Matheos kann man aus seinem Werk sozusagen seine eigentliche Biographie extrahieren, einen inneren Lebenlauf, überreich an nachhallenden Erlebnissen und Entwicklungen. Bei einem Singer/Songwriter wäre so etwas kein großes Ding, das würde man sogar von ihm erwarten, daß er sich bei jeder Gelegenheit ins All einloggt und danach über die eigene Vergänglichkeit rumnölt, aber bei einem gestandenen Metal-Musiker... also da bin richtig glücklich, daß es da den Jim Matheos gibt.
Zumal der auch nie nölen würde. Man hält ja angesichts der Härten des Lebens härtegradmäßig in der Musik kräftig dagegen.
Wieder so ein Abschnitt zum Ausdrucken.
q.e.d.