...und hier dann die andere Hälfte:
J.G. Ballard - Der Block
Inhalt: Der Dozent Robert Laing bewohnt eine Wohnung in einem hypermodernen Wolkenkratzer mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten, in dem das gehobene Milieu, dem er angehört, vermeintlich unter sich ist... aber das ist eine Illusion. Sehr bald kommt es zu Streitigkeiten unter den Einwohnern verschiedener Etagen, zu Sabotageakten, Vandalismus, schließlich auch barbarischer Gewalt und dann dem völligen Zusammenbruch der Zivilisation innerhalb des Gebäudes - das dennoch nach außen wie für sich isoliert scheint.
Kommentar: Ballard zum Dritten (ich habe die alle in so einem dicken Sammelband gelesen), hier dann aber in der geballtesten Form. Etwas eigenartig ist, dass der beschriebene Zusammenbruch schon sehr schnell vonstatten geht. Der größte Teil der Handlung beschreibt das "Zusammen"-"Leben" in dezimierten Kleingruppen im bereits völlig verwahrlosten und mit Fallen und Barrikaden gespickten Treppenhaus. Natürlich wird deutlich, dass hinter dem ganzen die Moral steckt, den Menschen als grundsätzlich aggressives und missgünstiges Wesen zu präsentieren, dass jede Gelegenheit nutzt, um andere um des eigenen Vorteils Willen zu erniedrigen und zu unterdrücken - ein Verhalten, das demnach nicht durch materielle Bedingungen gespeist wird, sondern sich überall zeigt und zeigen wird, wo sich Menschen gegenseitig auf die Pelle rücken (müssen).
Ansonsten sind hier wieder ein paar Makel bei der Übersetzung aufgefallen - kann denn Englisch wirklich so schwer sein? Die Verfilmung von 2017 mit Tom Hiddleston in der Hauptrolle liegt hier übrigens auf DVD rum, angesehen habe ich mir den Streifen allerdings noch nicht. Ah ja, und drauf gestoßen bin ich übrigens eher nur deshalb, weil's von Hawkwind ein Lied gleichen Titels ("High Rise") gab, das sich vermutlich ebenfalls auf den Roman beziehen dürfte.
Axel Milberg - Düsternbrook
Inhalt: Axel Milberg wächst in Kiel-Düsternbrook in, wie man so sagt, behüteten Verhältnissen auf. Das ist noch untertrieben: Als Sohn eines Anwalts und einer Ärztin gehören für ihn bereits in den 60er Jahren Flugreisen nach Mallorca und Sizilien ebenso zum Alltag wie feiner Abendbesuch, Tennisclub oder Jagdausflüge mit adliger Bekannt- und Verwandtschaft. Nach verschiedenen Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens (u.a. Episoden als paranoider, aber glücklicher Erich-von-Däniken-Jünger und als RAF-Sympathisant) erreicht Milberg schließlich Anfang der 80er Jahre sein Ziel und wird, motiviert durch eine Begegnung mit Gert Fröbe, an einer Schauspielschule in München angenommen.
Kommentar: Ach ja, da schreibt mal wieder Prominenz einen autobiografisch gefärbten "Roman", tingelt damit durch Talkshows etc. und wird nicht müde zu behaupten, der Großteil des Buchs sei fiktional respektive "erlogen". Das mag vielleicht der Fall sein, aber es verwundert, dass auch eine erfundene Handlung noch ziemlich schal ist. Schließlich sind die geschilderten "Erlebnisse" bzw. Stationen bestenfalls sentimental, schlimmstenfalls völlig banal, definitiv aber frei von jeglicher Spannung, und die Versuche, diversen Dingen nachträglich noch eine Bedeutung für den Lebensweg anzudichten, wirkt geradezu stümperhaft und hohl. Im Prinzip wäre dieses Buch damit höchstens geeignet, wieder mal Ressentiments gegen das zur Schau gestellte Großbürgertum zu schüren.
Heinz Strunk - Jürgen
Inhalt: Parkhauswächter Jürgen Dose und sein cholerischer Kumpel Bernd suchen nach einer Frau, aber sämtliche Versuche, eine Beziehung einzugehen scheitern - ob beim Speed-Dating oder anonymen Bekanntschaften und sämtlicher aus Flirt-Ratgebern herangezogenen Vorbildung zum Trotz. Der letzte Ausweg scheint die Reise mit einer Partnerschaftsvermittlung zu sein, die den Kontakt zu willigen Single-Frauen aus Polen verspricht. Also geht es ab nach Breslau - wo sich dann aber doch wieder alles auf den Kopf stellt.
Kommentar: Das war schon wieder ein typischer Strunk-Roman. Viele Motive sind mittlerweile bekannt, insbesondere die auch bettlägerig und pflegebedürftig noch einen Kontrollzwang auszuübende Mutter des Protagonisten kennt man in ziemlich ähnlicher Form schon aus "Fleisch ist mein Gemüse", "Fleckenteufel" und "Junge rettet Freund aus Teich". Davon abgesehen überraschen einige Punkte allerdings doch: Zum Einen ist der ganze Roman durchzogen von bizarren, beinahe kafkaesken Situationen und Szenen, die keinen sonstigen Bezug zur eigentlichen Handlung haben (z.B. die Rolle von Herrn Owusu oder der Arztbesuch in Bautzen). Zum Anderen lässt der Roman durchblicken, dass der Grund für die Bindungsunfähigkeit keineswegs bei Jürgen und Bernd liegt, sondern die fraglichen Damen ebenso schlecht wegkommen wie die Methoden der Kontaktaufnahme - mithin also wiederum das Milieu oder die Gesellschaft. Die Verfilmung (mit Strunk selber in der Hauptrolle und Charly Hübner als Bernd) machte es da weitaus einfacher, die beiden Hauptfiguren einfach als Loser abzustempeln.
Julian Barnes - Vom Ende einer Geschichte
Inhalt: Ein zweigeteiltes Buch: Zu Beginn schildert der Erzähler Tony seine Jugend auf der Schule und in der Universität. Prägendes Ereignis ist die Beziehung zu seiner ersten Freundin Veronica, der peinliche "Antrittsbesuch" bei deren Eltern und die spätere Trennung, nachdem besagte Veronica sich prompt in Tonys besten Kumpel Adrian verliebt. Der aber nur wenige Monate später aus nicht geklärten Motiven den Freitod wählt. Der Zeitsprung in der Mitte rollt dann diese Geschichte nochmals aus der Rückschau aus, als Tony überraschend von Veronicas verstorbener Mutter mit einer Erbschaft bedacht wird und dieser daraufhin den vor Jahren buchstäblich abgerissenen Kontakt wieder herzustellen versucht.
Kommentar: Leider ein typischer "Pointen"-Roman - wenn man erst mal weiß, worin das große, bestens gehütete Geheimnis besteht, das am Ende offenbart wird, und sich - so vermutlich die Vorstellung des Autos - danach alles vorige in einem neuen Licht zeigen soll, verliert alles, was zuvor relativ ausführlich und nicht ohne Ironie sowie meta-narrative Verweise auf die Rolle von persönlicher Wahrnehmung und subjektiven Urteilen bei der Beschreibung von "Geschichte" geschildert wurde, alsbald seinen Reiz und nimmt sich außerordentlich banal aus. Das mag zwar programmatisch zum Titel passen, lässt aber aus dem Roman leider am Ende die Luft raus und wirkt weitaus weniger elegant, als wenn Barnes den Leser hier im Unklaren gelassen hätte - oder besser noch: eine Vielzahl von möglichen Alternativen in der Schwebe gehalten hätte. Schade!
Wolfgang Herrndorf - Sand
Inhalt: Einiges passiert in Marokko im Jahr 1972: Die Einwohner einer Hippie-Kommune werden massakriert, ein schlecht getarnter Spion kommt ums Leben, die überforderte Polizei geht ihrem Job nur unwillig nach - und so wacht dann irgendwann ein Mann in der Wüste auf ohne Gedächtnis, aber mit Verfolgern im Nacken und einem Bündel an Mysterien vor sich. Welche Rollen spielen die hilfsbereite amerikanische Touristin mit den blonden Haaren, der mit dem Leben von Frau und Kind - beide dem Protagonisten völlig unbekannt - drohende Gangsterboss, der die Neueröffnung seiner Praxis feiernde Psychiater? Und warum ist ständig von einer Mine die Rede?
Kommentar: Schon der Inhalt macht deutlich, dass Herrndorf hier vor der scheinbaren, in jedem Fall aber wohlbekannten Kulisse eines typischen 60er-/70er-Jahre-Agentenfilms sehr, sehr viel buchstäblich in den Sand wirft, ohne dabei unter dem Druck zu stehen, wirklich jeden einzelnen Handlungsfaden überhaupt in die Hand nehmen zu müssen. Das ist viel mehr sowas wie das Konzept hier: Alles könnte irgendwie wichtig sein, aber die Welt dreht sich auch abseits der Erfahrung und Wahrnehmung der Hauptfigur weiter. Alles hat ein Eigenleben, jeder Mensch hat einen eigenen Kopf, aber praktisch niemand ist übermäßig intelligent, begabt, gutmütig oder weitsichtig. Genau diese Unsicherheit kostet Herrndorf hier ziemlich gelungen und mit viel sardonischem Witz aus. Sehr interessant!
Christian Kracht - Faserland
Inhalt: Die Handlung sollte ja mittlerweile bekannt sein. Der Protagonist reist von Sylt nach Hamburg nach Frankfurt nach Heidelberg nach München nach Meersburg und schließlich nach Zürich, begleitet von Alkohol, Zigaretten, Drogen, Parties, Markenprodukten und anderen Auswüchsen der weitestgehend apolitischen Spaß- und Wohlstandsgesellschaft der 90er Jahre, deren Vorzüge und Nachteile er eher distanziert auf den Prüfstand stellt.
Kommentar: Ach, dieser Roman wird mittlerweile offenbar von seiner eigenen Rezeption aufgefressen - in diesem Sinne kann ich also eigentlich gar nichts dazu sagen, was nicht irgendwer schon gesagt hätte.
Interessant ist jedenfalls, dass der Roman gar nicht so "veraltet" wirkt, wie der zeitliche Abstand von nun auch schon 24 Jahren hätte vermuten lassen. Was umgekehrt nahelegt, dass - obschon Moden, Trends und Technik sich seitdem gewandelt haben (geradezu rührend, wie hier jemand von seinem Autotelefon schwärmt...) - der grundlegende beklagte Makel in der Verfasstheit dieses Landes und seiner - na ja - Jugend (zumindest eines bestimmten Milieus) seither nicht ausgeräumt wurde. Woraus natürlich folgt, dass einschlägige Romane offenbar immer noch möglich sind. Ja, es ist wohl ein Kreuz mit dieser "Popliteratur".
Christian Kracht - Imperium
Inhalt: Was ganz anderes: Um die Jahrhundertwende (komisch genug: Jeder weiß, dass damit die Zeit um 1900 gemeint ist) bricht August Engelhardt in den (damals u.a. reichsdeutsch verwalteten) Südpazifik auf, um dort seine Vision eines kröperlich wie spirituell vollkommenen Lebens zu verwirklichen: Der Kokvorismus, also die alleinige Ernährung durch Kokosnüsse. Und der reichlich weltfremde Engelhardt schafft es tatsächlich, sich eine kleine Insel vor Neupommern überschreiben zu lassen und sich den Respekt der Eingeborenen zu erkämpfen. Die Außenwelt dagegen reagiert auf Engelhardt sehr unterschiedlich: Jünger folgen ihm, ohne Verständnis zu gewinnen, die aristokratischen Kolonialisten verlachen ihn, und schließlich ziehen der Erste Weltkrieg und das australische Militär vorerst einen Schlussstrich unter diese absurde Träumerei - was aber noch nicht das Ende der Geschichte ist...
Kommentar: Ja, das alles gab es wirklich, und was den eigentlichen Reiz dieser ziemlich unterhaltsam erzählten Geschichte ausmacht, ist die Tatsache, dass Engelhardts krude zusammengereimte "Philosophie" immer wieder in einen Rahmen gestellt wird. Einerseits als Kontrast zum nationalistisch-bourgeois-hedonistischen Gebahren der Kolonie, andererseits als Parallelentwicklung zu anderen Utopisten und Scharlatanen und zuletzt noch als wesensverwandt dargestellt zu sehr viel bedrohlicheren Vorstellungen wie Antisemitismus und Homophobie (oder harmloseren wie Vegetarismus und Nudismus). Hintenrum nimmt Kracht hiermit also doch recht pointiert jegliche Esoterik samt ihrem Nährboden und ihren Implikationen auseinander. Ansonsten ein in seinem lakonischen Tonfall, effizienter Sprache und einem Gespür dafür, trotzdem weniger bedeutenden Nebenfiguren noch den gebührenden Raum zu lassen und einen kleinen Abriss über die Gesellschaft vor gut hundert Jahren zu liefern. Großartig!
Juli Zeh - Nullzeit
Inhalt: Sven, Aussteiger und examinierter Jurist, betreibt auf Lanzarote eine Tauschschule, doch beim Paar aus der (Soap-)Schauspielerin Jola und dem Schriftsteller Theo, die sich im November 2011 für zwei Wochen bei ihm eingemietet haben, ist alles anders. Vor Svens Augen zelebrieren die beiden einen handfesten Beziehungskrach, in den Sven sehr bald hineingezogen wird und der jederzeit zu eskalieren droht - über wie unter Wasser.
Kommentar: Relativ gewöhnliche Gebrauchsliteratur, stilistisch wie inhaltlich unterhalb der Sachen anzusiedeln, die ich bislang von Zeh gelesen habe ("Schilf" und "Corpus Delicti"). Ein paar ebenso distanzierte wie destruktive Bemerkungen über Deutschlands Gegenwart, seine Gesellschaft und die sich ständig im Großen wie im Kleinen zeigenden zänkischen Machtspiele sind wohl noch das interessanteste, das daraus gezogen werden kann, aber im Prinzip auch nix neues. Ansonsten wird die Handlung immerhin ziemlich geradlinig beschrieben und die Erläuterungen zum Tauchen führen schließlich noch mal vor Augen, welche Rolle "Recherche" wohl beim Verfassen eines Romans spielen mag. Ansonsten gehe ich aber mal davon aus, diesen Roman ähnlich schnell, wie ich ihn gelesen habe (zwei Vormittage), auch wieder vergessen zu haben.
Benjamin von Stuckrad-Barre - Blackbox
Inhalt: Auch hier wird's kleinteilig: Stuckrad-Barre versammelt Kurzgeschichten, Skizzen und als ambitioniertestes wie umfangreichstes Konstrukt ein groteskes Quasi-Theaterstück, bei dem im Big-Brother-Container unter der Aufsicht von Helmut Dietl im Gerichtssaal von Barbara Salesch die Story einer angeblichen Affäre zwischen Stuckrad-Barre und Anke Engelke verhandelt wird, während sich in den Nebenräumen privates Boulevardfernsehen und ein Klatschblatt auf ihre Weise am Gerücht abarbeiten. All das steht - zumindest verheißt es der Klappentext so - unter dem Stern des Scheiterns und der Frage, wie so etwas im Nachhinein erklärt werden könne.
Kommentar: Leider durch und durch Stückwerk. Die Kurzgeschichten sind zwar einigermaßen konsistent, aber größtenteils ziemlich banal. Die umgekehrten Versuche, Dinge mit Hilfe von Computer- und Internet-Jargon zu würzen, wirkt ebenfalls holprig und auch altbacken. Die ganze Anke-Engelke-Story ist dagegen viel zu albern und wirkt mit dem Verweis auf ehedem populäre Figuren aus öffentlichem Leben oder Fiktion (wie z.B. Robert Liebling und Ally McBeal) in der Tat wirklich angejahrt. Nein, das ist ziemlich heterogen und zerfahren und war teils quälend zu lesen.