Sind mal wieder ein paar Sachen zusammengekommen in den letzten Wochen...
Ich fasse mal auf gewohnte Weise zusammen:
Heinz Strunk - Die Zunge Europas
Inhalt: Noch ein Strunk-Roman. Erzählt wird eine Woche im Leben von Sven, der einem typischen 90er/00er-Comedian als Zulieferer dient, sich in dieser Tätigkeit aber ebenso festfährt wie in seiner Beziehung und überhaupt seinem ganzen Leben. Es folgt logischerweise der Auf- und Ausbruch, der hier zwar einigermaßen reibungslos abläuft, stattdessen gibt's zum Ende der Handlung aber das krachende Ende einer sommerlichen Hitzewelle in Form eines Gewitters.
Kommentar: Vergleichsweise leichte Lektüre diesmal - ob's daran lag, dass es Strunks Quasi-Debüt (nach "Fleisch ist mein Gemüse") war? Immerhin tauchen hier keine exzessiven Suff-Passagen auf, ebenso wenig Glücksspiel und Fäkal-Orgien - oder zumindest kaum. Immerhin lässt sich das kleinbürgerliche Milieu von Harburg erahnen, despektierliche Beobachtungen der Mitmenschen an öffentlichen Orten (Zug, Cafés, Parks, Kneipen) gibt's auch in Hülle und Fülle, und sogar der in "In Afrika" viel stärker ausgelebte Fitness-Tick wird hier quasi eingeführt. Kann man sich geben, auch wenn der einsame Höhepunkt wohl die bizarre Formulierung (samt Klammerbemerkung, das hätte der Lektor eigentlich korrigieren wollen), vor des Erzählers Haustür sei eine Bushaltestelle "untergebracht".
Benjamin von Stuckrad-Barre - Auch Deutsche unter den Opfern
Inhalt: Stuckrad-Barre beschreibt in zahlreichen offenbar ursprünglich für Zeitungen geschriebenen Artikeln Begebenheiten des öffentlichen Lebens in den Jahren 2008-2009, von der Fußball-EM bis zu diversen Bundes- und Landtagswahlen. Und so taucht dann alles wieder vor dem geistigen Auge auf, was damals so die Runde gemacht hat: Die Querelen der damaligen GroKo, der Wirbel um die ersten Smartphones und Blackberry-Geräte, Hysterie bei der Eröffnung von Elektromärkten und Outlet-Centern, Abwrackprämie, Bankenkrise, das Ankommen von Google im öffentlichen Bewusstsein, und so weiter, und so fort.
Kommentar: Ganz anders als "Blackbox" und überraschend gut. Stuckrad-Barre versteht es, die prägenden Merkmale von Personen und Dingen mit nur wenigen Worten präzise und memorabel zu skizzieren, was die Lektüre einerseits knapp hält, andererseits erlaubt, zugleich eine Vielzahl an Eindrücken anschaulich zu beschreiben. Besonders interessant sind aus heutiger Sicht natürlich die politischen Berichte: Da wird schon früh in Frank-Walter Steinmeier ein künftiger Bundespräsident ausgemacht, und auch die Karriere von anderen Leuten wie Markus Söder oder Tarek Al-Wazir wird schon quasi vorweggenommen (auf der Kehrseite stehen allerdings Politiker, die mittlerweile quasi von der Bildfläche verschwunden sind, wie u.a. Michael Naumann und Franziska Drohsel, und auch Roland Koch, Kurt Beck und Guido Westerwelle sind längst aus anderen Gründen weg vom Fenster). Aber auch die Begegnungen mit anderen Personen des öffentlichen Lebens wie z.B. Hans Magnus Enzensberger, Dieter Hildebrand, Udo Lindenberg. Großartig waren auch die Berichte über Lindenberg, Westernhagen und Grönemeyer, und zuletzt erfährt man auch noch, was es eigentlich mit der Merkel-Raute auf sich hat.
Fraglich ist natürlich, inwiefern das alles bloß so reizvoll ist, weil man sich selber an diese Zeit noch einigermaßen erinnert. Das lässt sich so natürlich nicht klären.
Juli Zeh - Unterleuten
Inhalt: Im Örtchen Unterleuten in der brandenburgischen Provinz sollen Windräder gebaut werden - der Kommune, aber mehr noch dem Besitzer des entsprechenden Flurstücks winkt damit ein Geldregen, während alle anderen schlimmstenfalls in die Röhre schauen dürften. Also postieren sich Alteingesessene und Zugezogene, Umweltschützer, Bauern, Pferdenärrinnen, Automechaniker, Schriftsteller und viele andere aus den unterschiedlichsten persönlichen Beweggründen mal für, mal gegen Energiewende und Strukturwandel. Nebenher aufgegriffen werden persönliche und allgemeine Entwicklungen aus DDR-, Wende- sowie Nachwendezeit und Gegenwart, angedeutet noch ein Generationenkonflikt.
Kommentar: Eine relativ kurze Beschreibung des Inhalts, aber ein umso dickeres Buch - mit ungefähr 650 Seiten sogar das umfangreichste, das ich in den letzten Jahren gelesen habe (na gut - seit Stephen Kings "Das Monstrum" anno 2017). Im Allgemeinen lassen sich aber verschiedene Merkmale ausmachen, die für die Autorin ziemlich typisch sein dürften: Die Hintergrundgeschichte einzelner Personen wird haarklein, bisweilen ein wenig sentimental-verklärt ausgeführt und oftmals als alleinige Antriebsfeder für das jeweilige Handeln (und damit den tatsächlichen Fortgang der Handlung) präsentiert, womit wiederum "Außenwelt" und größerer Zusammenhang, die ja sonst eigentlich den Rahmen für das sich Entwickelnde bilden sollten, oftmals auf bloße höhere Gewalt à la "Die Politik" oder "Das Wetter" reduziert wird.
In diesem Sinne ist "Unterleuten" somit zumindest als Schilderung eines dörflich-ländlichen Milieus ein ziemlicher Fehlschlag, gerade auch im Vergleich mit Dörte Hansens letztjähriger "Mittagsstunde", die in dieser Hinsicht sehr viel einfühlsamer vorgegangen ist. Das dürfte umgekehrt allerdings wohl auch dem Umstand geschuldet sein, dass sich bei Zeh die Handlung an einem sehr konkreten, punktuellen Ereignis entzündet, sich darauf konzentriert und damit längere Entwicklungen notwendigerweise aus dem Blickfeld entgleiten.
Davon abgesehen war es allerdings trotzdem relativ unterhaltsam, dieses Buch zu lesen - auch, weil immer wieder schon recht bissige Spitzen gegen die Protagonisten, ihre Herkunft, ihre Überzeugungen und ihre Irrwege ausgeteilt werden. Die einem Managment-Ratgeber geradezu hörige Pferdenärrin, der egozentrisch-distanzierte Computerspiele-Entwickler der Love-Parade-Generation, der patriarchalische, sich längst selbst überlebte ehemalige LPG-Chef, der völlig überdrehte Naturschützer, der West-Investor - niemand kommt hier wirklich gut weg oder wird zumindest halbwegs ernst genommen.
Christian Kracht - Die Toten
Inhalt: Anfang der 30er Jahre knüpft der japanische Beamte Masahiko Amakasu einen Kontakt zur Universum-Film AG in Deutschland, um einen besonders tiefsinnigen Regisseur nach Japan zu locken, mit dessen Hilfe man ein Gegengewicht zur weltweiten Dominanz von Hollywood schaffen möchte. Auf Umwegen gelangt schließlich der Schweizer Emil Nägeli nach Japan, wo sich bereits seine Verlobte Ida befindet, die ihn aber mit Amakasu betrügt. Desillusioniert begibt sich Nägeli mit seiner Kamera auf eine Odyssee durch Japan, während es Ida mit einer Karriere in Hollywood versucht.
Kommentar: Ein merkwürdiger Roman. Einerseits wirkt er mit seiner Darstellung von Politik, Kultur und Gesellschaft der frühen 30er Jahre sowie recht eigenen Blicken auf Nationalismus, Imperialismus und Kolonialismus wie eine Fortsschreibung der Tendenzen von "Imperium", zumal auch der Schreib- und Erzählstil ähnlich ist, versteift sich aber nicht darauf, sondern lässt eher darauf blicken, dass die Protagonisten irgendwie doch nicht in ihre Zeit passen und jeglicher Mode oder Trends entweder vorgreifen oder aber viel zu spät dran sind. Der entsprechende Subtext wäre dazu wohl: Geschichte passiert, und welche Rolle der einzelne darin spielt, ist völliger Zufall. Das alles wird diesmal eher tragikomisch und etwas merkwürdig strukturiert dargeboten (es dauert lange, bis die Geschichte überhaupt beginnt), aber dennoch nicht ohne Ironie. Trotzdem ein eher schwieriges Buch, aber ich werde wohl noch darüber nachdenken.
Juli Zeh - Leere Herzen
Inhalt: Im Jahr 2025 herrscht in Deutschland ein AfD-Verschnitt namens "Bewegung besorgter Bürger", Demokratie und internationaler Zusammenhalt gehen den Bach runter, aber offenbar sind alle einigermaßen glücklich. Inmitten dieser Gleichschaltung betreibt Britta eine brisante Agentur: Potenzielle Selbstmörder werden aus dem Netz gefischt, einer Therapie unterzogen und entweder geheilt - oder aber an Terrororganisationen vermittelt. Das Geschäft läuft gut - bis auf einmal ein Anschlag ohne Brittas zutun geschieht, sich ein eigenartiger Investor an Brittas Mann Richard wendet, und eine junge, zu allem bereite Frau namens Julietta bei Britta vorstellig wird.
Kommentar: Noch eines dieser berüchtigten Bücher "über die großen Fragen unserer Zeit", diesmal mit direktem Adressat an Politik (eigenartig allerdings, dass Merkel, Trump, Putin und AKP selber benannt werden, die AfD aber nur unter Chiffre auftaucht), Medien und Gesellschaft. Und ähnlich wie bei "Unterleuten" wird auch hier wieder im Wesentlichen dargestellt, wie sich Menschen mit diesen Verhältnissen zu arrangieren oder genauer gesagt ihr Leben, insbesondere die materielle Basis für ihr Privat- und Familienleben unter Kontrolle zu behalten versuchen und dabei verschiedene tief verwurzelte Neurosen offenbaren. Mithin also wieder eine Tendenz zum alles andere als doppelbödigen Melodram.
Davon ab wirkt die Schilderung von nur unwesentlich aus der Gegenwart heraus extrapolierter bürgerlicher Lebensentwürfe natürlich gewohnt abstoßend und verwundert auch deshalb, weil sich hier mal wieder niemand in die Fundamentalopposition begibt, sondern auf seine Weise immer noch irgendwie den Anschluss an den allgemeinen Zeitgeist sucht. Wer weiß, vielleicht ist Juli Zeh für sowas mittlerweile schon zu etabliert...? Zudem gibt's noch einige dieser alten Zeh-Malaisen, die die Erzählung (Er-zeh-lung?) etwas zu konstruiert wirken lsssen, namentlich diese zahlreichen Rückblenden, die die Vergangenheit (wider besseren Wissens) als etwas bombenfestes, auf jeden Fall für alle Zeiten sicher definiertes präsentieren. Na ja.
Albert Camus - Der Fremde
Inhalt: Im Algerien der 30er Jahre reist Meursault zum Begräbnis seiner Mutter, beginnt eine Beziehung, freundet sich mit seinem Nachbarn Sintès an, macht weitere Bekanntschaften - und wird schließlich unversehens zum Mörder, als er am Strand mit Sintès' Revolver einen Araber erschießt, dessen Bruder zuvor mit Sintès in Streit geraten war. Im Gerichtsprozess bemühen sich schließlich alle, in Meursault, der alles über sich ergehen lässt, einen eiskalten und absolut gewissenlosen Außenseiter zu sehen, und verurteilen ihn zum Tode.
Kommentar: Noch ein Klassiker, der seite Stärken voll ausspielen kann. Die einfache, knappe und unmittelbare, fast im Stile eines Tagebuchs gehaltene Sprache macht in ihrer Lakonik die Kernaussagen nur umso deutlicher, also das Zweifeln am Sinn der menschlichen Existenz oder überhaupt an irgendeinem Sinne hinter dem, was gemeinhin "Kausalität" genannt wird. Umgekehrt wird auch deutlich, dass nicht mal außergewöhnliche Ideologien nötig sind, um Misanthropie ausleben zu können - dazu genügt schon eine einfache Verneinung dessen, was die Gesellschaft nach außen hin zusammenhält, i.e. in bloßen Ritualen erstarrter Religion und nicht weniger fadenscheiniger "bürgerlicher Werte".