Ihr müßt jetzt stark sein. Versprecht Ihr, daß niemand zu Schaden kommen wird?
Platz 94:
Polyphia - New Levels New Devils (2018)
Okay, das ist nicht mein 94.liebstes Prog-Album aller Zeiten. Genaugenommen besitze ich keine einzige Veröffentlichung der Band und werde auch nie eine kaufen. Ich habe diesen Platz in meiner Liste freigehalten, weil ich anhand dieser Band sehr schön mein (sicher etwas abweichendes) Verständnis von Prog deutlich machen kann.
Für mich bedeutet "Prog" tatsächlich (auch) das, was der Wortsinn nahelegt: Künstler, die etwas neues und eigenes schaffen. Und nicht nur eine geronnene Form, die schematisch bedient wird.
Ich habe diese Band selbstverständlich vor ein paar Jahren über Gitarrenmagazine kennengelernt, sonst wäre ich nie drauf gekommen. Polyphia machen Instrumentalmusik in klassischer Besetzung: zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug. Allerdings auch viele Effekte aus dem Rechner. Ziemlich viele.
Die wahrscheinlich konsensfähigste Bezeichnung lautet: Math. Man muß verdammt nochmal genau mitzählen, sonst kommt man aus dem Takt. Der sich nicht selten alle paar Sekunden ändert. In dieser krassen Form, in dieser Konsequenz hat das vor Polyphia wohl noch niemand gemacht.
So weit, so normal. Freaks halt. Kein Ding. Das Kuriose ist: Die haben sehr, sehr hohe Klickzahlen und haben es (sicherlich nur in den Download/Streaming-Charts, nicht bei physischen Tonträgern) in den USA bis in die Top 30 geschafft! Ich vermute, daß hierfür entscheidend auch die Optik ist, die sich der 1. Gitarrist und das Aushängeschild der Band Tim Henson gegeben hat. Er sieht (zumindest in meiner Wahrnehmung) mittlerweile aus, wie eine androgyne, teilweise fast roboterartige Mangafigur, und das scheint viele in der Generation nach uns anzusprechen.
Die Musik von Polyphia enthält sehr viele verschiedene Elemente. Hip Hop ist leider eins davon, was ebenfalls wichtig für die Erfolgsformel sein dürfte. Da wir hier von handgemachter Gitarrenmusik sprechen, müssen vordringlich auch Flamenco, Akustikgitarren-Fingerstyle und Gypsy Jazz genannt werden. Und damit sind wir beim eigentlichen Thema.
Was die beiden Gitarristen, insbesondere besagter Tim Henson da veranstalten, ist ein wirklich neues Level des Gitarrenspiels. Eine solche technische Fingerfertigkeit bei rhythmisch bis dahin ungekannter Komplexität war vor Polyphia noch nie zu hören gewesen. Nicht ohne Grund hat Steve Vai mit den Jungs ein Video gemacht. In dem er ziemlich altbacken und von gestern rüberkommt, finde ich. Gegen diesen Henson wirkt eigntlich so gut wie jeder altgediente Klampfer ein wenig überholt. Das ist echt neu. Und eigen. Und deshalb für mich Prog.
Der liebe
@Vauxdvihl hat in seiner Liste auf der 88 ein tolles Album einer norwegischen Band, Spiral Architects. Und er hat präzise beschrieben, wie die klingen. Wie eine Mixtur aus Watchtower und Waltz. Natürlich ist das Prog, ohne jede Frage. Aber es ist nicht neu, nicht originell. Versteht mich bitte recht, ich würde jederzeit das Album der Spiral Architects dieser komischen Band Polyphia vorziehen. Jederzeit! Doch leider sagt das mehr über meinen in diesem Fall eher verkrusteten Geschmack aus als über die Proggigkeit der jeweiligen Musik.
Wenn "Prog" bedeutet, daß das, was abgeliefert wird, in irgendeiner Hinsicht einen musikalischen "Fortschritt" darstellen sollte, dann sind Polyphia mehr Prog als die allermeisten etablierten Bands in diesem Unterforum. Nun gibt es natürlich auch andere Kriterien, etwas als Prog einzustufen, zum Glück. Aber irgendwie, finde ich, sollte dieses wörtliche Verständnis auch eine gewisse Rolle spielen dürfen, oder nicht?
Ich werfe diese Gedanken und Eindrücke einfach mal so in die Runde und bin gespannt, wie Ihr das seht. Hier ein paar links, die ich zum Erstkontalt vorschlagen würde. Kannte einer von Euch denn die Band bereits?
(was der Drumer macht, ist absolut genial!)
https://www.youtube.com/watch?v=Z5NoQg8LdDk
Das letztere Lied zum besseren Nachverfolgen als Sologitarrentrack zum Song:
https://www.youtube.com/watch?v=DSBBEDAGOTc (besonders die Passage ab 2:22)
Ich wiederhole es gerne nochmal: Das ist nicht "meine Musik". Mich nerven einige Elemente des Sounds ganz gewaltig. Aber es ist verdammt beeindruckend. Und ja, es kann Spaß machen, das zu verfolgen, nachzuvollziehen, auf sich wirken zu lassen. So ein bißchen mal die Fühler in eine andere als die gewohnte Richtung auszustrecken, ist schließlich Prog auf Hörerseite.