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@wrm : darf gerne als Leserbrief im nächsten DF veröffentlicht werden, da ich nicht weiß/glaube, ob Götz meine Zeilen ansonsten erreichen]
Lieber Götz,
seit 30 Jahren folge ich Dir und Deinem Wirken. Ich untertreibe sicher nicht, wenn ich schreibe, dass Du den Musikgeschmack von zwei Generationen deutschsprachiger Metal-Fans und Karrieren von Metal-Musikern maßgeblich mitgeprägt hast. Deine emotionale und immer authentische Schreibe riss mich viele Jahre mit. Doch seit einiger Zeit wirkst Du auf mich ein wenig aus der Zeit gefallen, und ich frage mich, warum ich das so empfinde.
Mit der Gründung des Deaf Forever haben Du und Deine Mitstreiter Euch 2014 bewusst dazu entschieden, über Rock & Metal für Überzeugungstäter zu schreiben und auch kleineren Bands, die für Euch darunter fallen, eine entsprechende Plattform zu geben. "Jüngere" Bands wie Mantar, Sulphur Aeon, Visigoth, Night Demon, Chapel Of Disease oder Atlantean Kodex (um nur einige herauszugreifen) erhalten in Eurem Magazin zurecht eine exponierte Stellung und werden nicht zuletzt durch das Deaf Forever gepusht und dadurch vielen Metalhörern vorgestellt. Chapeau für so viel Geradlinigkeit!
Es gibt jedoch einen anderen Aspekt, der mir insbesondere beim Lesen Deines aktuellen Heft-Vorworts aufgefallen ist: Ihr habt Euch während Corona und auch seit dem Ukraine-Krieg klar positioniert und zum Beispiel Haltung gegen Schwurbler gezeigt. Wenn Du nun jedoch im Editorial bemängelst, dass die "Szene" sich live nicht mehr blicken lässt und für das Sterben von Clubs, Festivals und Veranstaltern mitverantwortlich ist, dann finde ich das zu kurz gedacht und erschreckend eindimensional.
Ich vermute, dass das Deaf Forever Forum in etwa die Demografie der "Szene" (= Konzertgänger, Heftkäufer, Platten-/CD-Käufer) abbildet. Geschätzt würde ich vermuten, dass das Verhältnis Ü40 zu U40 etwa 80:20 ist, möglicherweise sogar noch extremer. Ich habe jedenfalls bisher persönlich aus dem DFF noch niemanden kennengelernt, der/die spürbar jünger ist als ich (44). Das mag daran liegen, dass junge Menschen immer ein wenig gegen die "Alten" rebellieren oder sich Hörgewohnheiten/Geschmäcker verändern. Ich erinnere mich daran, dass ich mit 15, 16 auf Konzerten nicht neben "alten Menschen" Ü30 hätte stehen wollen. Eine Abgrenzung der Jugend gegen die Älteren ist wahrscheinlich immer normal, auch wenn Vermischung toll ist und in kleinem Maß vorkommt, wie man ja z.B. an der blutjungen
@thephantom hier mitlesen kann. Doch das ist nicht der einzige Gedanke, den ich verfolge.
Die jungen Menschen, Generation Z, die sich durch Fridays For Future und "Die letzte Generation" Gehör verschaffen, wachsen in einer Welt der drohenden Klimakatastrophe auf. Wir, Generation X, Golf, Babyboomer, sind anders sozialisiert und auch wenn wir ein Bewusstsein für den Klimawandel haben, so liegt nicht der Großteil unseres Lebens in einer veränderten, unsichereren Welt vor uns. Einer Welt, in der wir darauf angewiesen sind/sein werden, dass Regionalität von Produkten, Reduktion der CO₂-Emissionen, Überproduktion und Vermeidung von Rohstoffverschwendung/Abfällen drei unabdingbare Überlebensparameter sein werden:
- Regionalität: Ich esse Erdbeeren. Sehr gerne sogar. Aber nur deutsche, weil sie mir und meinem Gewissen am besten schmecken. Gute und frische deutsche Erdbeeren bekomme ich von Mai bis Juli, in den anderen Monaten esse ich keine Erdbeeren.
- Reduktion von CO₂-Emission: Wenn meine Erdbeeren aus Spanien, Holland oder Israel angeliefert werden, haben sie mehrere hundert/tausend Kilometer hinter sich, die sich nicht selbst zurücklegen, sondern gefahren werden. Das erzeugt unnötige Emission durch den Transport. Meine regionalen Erdbeeren stammen aus dem Umkreis von ca. 50-100km. Die Einsparung von CO₂ ist immens - im Umkehrschluss würde mein Konsumverhalten keine Transporte über Kontinente rechtfertigen.
- Überproduktion: Wir haben nur diese eine Erde. Derzeit leben und verbrauchen wir, also ob wir zwei Erden hätten. Das müssen wir durch unser Konsumverhalten und durch Effizienzeffekte ändern. Ich kann nur so viele regionale Erdbeeren kaufen, wie die Felder in Rheinhessen hergeben.
- Vermeidung von Rohstoffverschwendung/Abfällen: Und ich kaufe nur so viele Erdbeeren, wie ich selbst esse. Ich versuche keine Erdbeeren wegzuwerfen oder sinnlos mehr zu besitzen, als ich selbst verbrauchen kann. Und ich fahre sogar auf dem Radl mit meiner Tupperbox zum Erdbeerstand im Nachbarort und fülle mir dort meine 500/1.000 Gramm ab. Keine unnötigen Abfälle, Plastiktüten etc.
Was hat das mit Metal zu tun? Ersetze Erdbeeren durch Metal.
Wer braucht x Konzerte/Festivals pro Woche/Wochenende? Wer rechtfertigt es, dass permanent US-Bands für Europa-Tourneen über den großen Teich fliegen, mit LKWs/Transportern durch Europa fahren und dabei fatale CO₂-Footprints hinterlassen? Ganz davon abgesehen, dass zu all den Konzerten auch Horden von Fans (neben den Öffis) mit Autos anreisen. Vom Müll, der bei Konzerten und Festivals anfällt, ganz zu schweigen. Wir haben zu viel von allem, es müssen Lavish-Versionen von Rereleasen sein, die teilweise komplett sinnlos sind, aber halt schön im Regal aussehen. "Digital" ist immer noch weitgehend verpönt, nur der Besitz von CDs und Vinyl macht "true".
Was Du in Deinem Vorwort beschreibst, ist die Implosion = Gesundschrumpfung des Konzertmarkts. Und wenn er sich gesund schrumpft hat, warum sollte man dann nicht verstärkt lokale/kontinentale Bands (Größenordnung egal, Scorpions oder Imha Tarikat, Hauptsache geil!) unterstützen, die nicht über Ozeane fliegen müssen, damit man sie live erleben kann? Oder vielleicht fliegen sie auch nur alle 3 Jahre nach Europa, wenn sie mal wieder neue Songs im Gepäck haben anstatt mehrfach mit denselben Setlists zu touren?
Du selbst bist Ende 70er/Anfang 80er mit Metal "infiziert" worden. Eine Zeit, in der nicht jeden Monat gefühlt 250 Platten erschienen und 500 Konzerte/Festivals stattfanden. Du hast Dir ne Karte für Kiss/Maiden oder Metallica/Venom im VVK geholt und dann hat man wochenlang mit den Kumpels darauf hingefiebert. Du hast Mercyful Fate und Priest für Dich entdeckt und deren Platten hunderte Male nacheinander auf den Plattenteller gelegt, bis Du jede Zeile und jedes Solo mitträllern konntest. Du hast Metal nicht konsumiert, Du hast ihn eingeatmet, Dich dafür begeistert und zum Teil Deiner DNA gemacht. In Deinen Zeilen schwingen eine Menge Liebe und Romantik mit, wenn Du von der "Szene" schreibst. Aber auch viel "gestern" , "damals" oder "klingt wie [setze 70er/80er Band ein]".
Denn vielleicht ist diese Zeit einfach vorbei? Oder Du musst andere Wege finden, um die Generation Z zu erreichen. Ein Printmagazin in kleiner 5-stelliger Auflage wird das nicht schaffen. Du musst den jungen Menschen dort begegnen, wo sie sich aufhalten. Und das ist das Netz. Ein guter Teil Deiner eigenen "Szene" macht es Dir doch vor: Wir "Alten" hocken hier im DFF tagein tagaus zusammen und tauschen uns rund um die Uhr zu schwermetallischen Themen aus. Aber wo bist Du in diesen Diskussionen? Auch Eure strikte Verweigerungshaltung, ein Digitalangebot nur in Erwägung zu ziehen, wird dazu führen, dass Du und Deine Mitstreiter mit dem Mag vielleicht noch bis zum Renteneintritt existieren könnt. Die Hinterlassenschaft werden dann Stapel an Altpapier und Erinnerungen in den Köpfen greiser Fans sein. Wo ist das nachhaltig? Das DF und die "Szene" brauchen Antworten auf die dringenden Fragen der jungen Menschen im Kontext des Fan-Seins. Und nicht nur tonnenweise geile Riffsund Specials über kultige Alben/Bands von vor drölfzig Jahren.
Lange Rede, kurzer Sinn: Mit den Mitteln der Vergangenheit kann man Probleme der Zukunft nicht lösen. Oder Du akzeptierst, dass wir alle gemeinsam älter werden und man sich auf Konzis seltener trifft, weil man Rücken hat, die Kids zum Flötenuterricht gefahren werden müssen oder die Kohle gerade knapp ist. Und dass mit den Fans auch die Bands "sterben". Die "Social-Media-Welt" wird sie nicht getötet haben.
Liebe metallische Grüße
Daniel
P.S. Die Titelstory mit den ersten 100 der 200 besten Songs aller Zeiten ist gar nicht so langweilig, wie ich befürchtet habe
EDIT:
@wrm und
@kingrandy haben direkt ganz lieb per PN reagiert. Super, das macht das DFF aus